© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Mehr als ein Update nötig
Flugzeugindustrie: Die Abstürze von zwei neuen Boeing 737 Max 8 und Hunderte Tote innerhalb von nur fünf Monaten werfen viele Fragen auf / Komplexität bringt Gefahren
Fabian Schmidt-Ahmad

Ein Tweet brachte es schon zwei Tage nach dem Absturz, als noch viel spekuliert wurde, auf den Punkt: „Flugzeuge werden viel zu kompliziert, um zu fliegen. Piloten werden nicht mehr benötigt, sondern Informatiker“, schrieb Donald Trump. Alt und einfach sei oft besser. „Sekundenschnelle Entscheidungen sind erforderlich, und die Komplexität bringt Gefahr.“ Er wolle keinen Albert Einstein als Pilot: „Ich möchte großartige Flieger-Profis, die einfach und schnell die Kontrolle über ein Flugzeug übernehmen dürfen!“

Damit zeichnete sich ab, daß Boeings wichtigster Unterstützer sich nicht mehr von Konzernchef Dennis Muilenburg ein X für ein U vormachen läßt – und das Debakel vollständig wird: Auch der US-Präsident ordnete am 13. März ein Flugverbot für die seit Mai 2017 produzierte Boeing 737 Max an. Bis dahin hatte die amerikanische Luftfahrtbehörde FAA – anders als die Kollegen in Asien und Europa – ihre schützende Hand über den Luftfahrtgiganten gehalten.

Eine amerikanische Fehlkonstruktion?

Bei bestem Fliegerwetter hob am Morgen des 10. März der Ethiopian-Airlines-Flug 302 mit 149 Passagieren und acht Besatzungsmitgliedern an Bord vom Addis Ababa Bole International Airport Richtung Nairobi ab. Statt kontinuierlich an Höhe zu gewinnen, registrierte ein Radardienst mehrfach ein Auf und Ab. Dem Fluglotsen meldete der durch 8.231 Flugstunden erfahrene Pilot Yared Getachew „technische Probleme“ und bat um Rückkehr. Sechs Minuten nach Start brach der Funkkontakt ab. Aus einer Höhe von rund 2.600 Metern bohrte sich der noch nicht einmal fünf Monate alte Flieger fast senkrecht in den Boden.

Auf unheimliche Weise ähnelt dies dem Lion-Air-Flug 610 vom 29. Oktober 2018. Auch hier kämpfte eine nur zwei Monate alte Max 8 nach dem Start um Höhe. Rund zwölf Minuten nach Start ging die Boeing in rund 1.700 Metern Höhe in den Sturzflug über. Die mit 181 Passagieren und acht Besatzungsmitgliedern ausgebuchte Maschine zerschellte in der Javasee. Noch steht ein offizielles Untersuchungsergebnis aus, doch alles deutet auf ein Versagen der Steuerelektronik hin. Bereits nach dem ersten Unglück arbeitete Boeing hektisch an einem Update für die Steuerungssoftware der Max. Einen Tag nach dem jüngsten Absturz gab der Konzern bekannt, mit diesem „ein bereits sicheres Flugzeug noch sicherer machen“ zu wollen. Das klang wie Hohn, und es wächst der Verdacht: Hat Boeing hat mit der 737 Max überhastet eine Fehlkonstruktion aufsteigen lassen? Und das sogar mit Vorsatz?

Die Urversion der 737 hatte ihren Erstflug am 9. April 1967. Und bald danach eroberte der als zuverlässig geltende Flieger den lukrativen Markt der Kurz- und Mittelstreckenjets mit mehr als hundert Plätzen. Über 10.000 Exemplare verließen seitdem die Werkshallen in den USA und machten die 737 nicht nur zum wichtigsten Modell des Konzerns, sondern auch zum häufigsten strahlgetriebenen Passagierflugzeug. Erst 1987 warf Airbus mit der A320 den Fehdehandschuh hin. Zwar konnte sich Boeing mit der weiterentwicklten 737 NG („Next Generation“) einigermaßen behaupten, jedoch zeigte sich im Vergleich ein gewaltiges Manko: Moderne Triebwerke haben ein immer höheres Nebenstromverhältnis. Das macht sie zwar sparsam, jedoch auch groß und schwer. Anders als die A320 hat die schlanke 737 unter ihren Fittichen kaum Platz. Bereits bei der NG hatten die Konstrukteure erhebliche Probleme, die sie mit höherem Fahrwerk und vorgerückten Triebwerksgondeln lösten.

Damit war Boeings Evergreen ausgereizt. Als Airbus 2010 ankündigte, bei der A320-Baureihe neue und größere Leap-Triebwerke von CFM zu verbauen, hätte dies das Ende für die 737 bedeuten müssen. Doch statt einer kostspieligen Neuentwicklung entschied sich Boeing für ein Aufrüsten der NG zur Max. Diese hat die gleichen Triebwerke der A320 (mit kleinerem Rotordurchmesser), nun gänzlich den Flügeln vorgelagert. Das aber bedingt ein anderes Flugverhalten.

Damit ein Flugzeug stabil in der Luft liegt, müssen Auftriebs- und Masseschwerpunkt in einem bestimmten Verhältnis stehen. Während des Fluges ändert sich dieses durch Geschwindigkeit und Treibstoffverbrauch, was durch Trimmung ausgeglichen wird. Die alte 737 galt als hervorragend ausbalanciert, sie flog sich praktisch „von selbst“. Bei der Max ist das Gegenteil der Fall. Durch die hohe Masse auf den langen Hebelarm erzeugen die Triebwerke ein starkes Kippmoment, abhängig vom Schub nach unten oder oben. Zusätzlich sind die Gondeln aus Platzgründen am Boden abgeflacht, wodurch sie selbst Auftrieb erzeugen. Das macht die Max zu einem kaum zu bändigenden Wildfang. Insbesondere bei größeren Anstellwinkeln droht der gefürchtete Strömungsabriß. Um das zu vermeiden, wurde die automatische Trimmung MCAS (Maneuvering Characteristics Augmentation System) entwickelt – und hier beginnt der eigentliche Skandal. Denn bis zum ersten Absturz der Max wußten viele Piloten wenig von diesem System. NG-Piloten sollten sich, so warb Boeing, nach kurzer Einführung in das Max-Cockpit setzen können. Eine neue, teure Typenlizenz sei unnötig. Keine Zeit, ein komplexes System wie MCAS zu erläutern, das vor dem ersten Unglück noch nicht mal im Handbuch erwähnt wurde.

Flugzeugbauer sind auf Vertrauen angewiesen

Wie funktioniert MCAS? Registriert die automatische Trimmung einen zu hohen Anstellwinkel, wird die Flugzeugnase nach unten gedrückt. Steuert der Pilot dagegen, beginnt das Spiel erneut. Eben das ist nach ersten Untersuchungen passiert. MCAS führte bei beiden Unglücken ein Eigenleben. Keiner der Piloten war vorbereitet, zumal das System äußerlich nicht signalisiert, gerade einzugreifen.

Auch läßt sich die automatische Trimmung nur umständlich deaktivieren. Eine vollelektronische Steuerung wurde übrigens mit der A320 eingeführt. Ein makabrer Treppenwitz, daß Boeing damals seine NG damit bewarb, dieses Übersteuern des Piloten nicht zuzulassen. Erst die Max wird vollständig durch Fly-by-Wire gesteuert. 5.012 bestellte Max in den Büchern, 57 ausgelieferte Max pro Monat – das ist nun alles Makulatur. Der ökonomische Schaden durch die zurückgefahrene Produktion für den um die 100 Millionen Dollar teuren Flieger ist kaum abzuschätzen. Sollte sich jedoch herausstellen, daß Boeing versucht hat, mit einem verpfuschten System ein verpfuschtes Flugzeug in der Luft zu halten, dürfte der Branchenriese noch ganz andere Probleme bekommen. Das könnte nicht nur das unrühmliche Ende für ein Flugzeug bedeuten, das einst Maßstäbe gesetzt hat.

Sogar Boeing selbst könnte womöglich durch Entschädigungszahlungen in die Pleite rutschen, schätzt der Professor für Luftsicherheitsrecht, Elmar Giemulla. „Die Besonderheit der tragischen Abstürze ist der offensichtliche Designfehler und damit eine Produkthaftung des US-Herstellers Boeing“, sagte er der Welt. In Fällen von „öffentlichem Interesse“ könnten auch Ausländer vor amerikanischen Gerichten klagen. Stellen Gerichte ein schuldhaftes Verhalten Boeings fest, droht dann die dreifache Strafe in Höhe des Streitwertes.

Klagen können nicht nur die Angehörigen der Max-Opfer. Hinzu kommen noch die Fluggesellschaften (American, Air Canada, China Eastern, Jet, Norwegian, Southwest oder Turkish Airlines) der 381 seit 2017 ausgelieferten Max, die kostspieligen Ersatz anmieten müssen. Zwar kann ein Konzern nach US-Recht Gläubigerschutz (Chapter 11) anmelden und sich dadurch faktisch entschulden. Doch Flugzeugbauer können auf vieles verzichten, aber nicht auf Vertrauen. Und das Vertrauen in das einstige US-Wahrzeichen dürfte dann dahin sein.

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