© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Bis in die Haarspitzen politisiert
Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation: Hugo von Hofmannsthal und die Konservative Revolution
Wolfgang Müller

Freunde, so erzählt Erika Brecht in ihren „Erinnerungen an Hugo von Hofmannsthal“ (1946), nannten den Dichter Ariel, nach der Figur des Luftgeistes in Shakespeares „Sturm“. Gewiß kein unpassender Name, fand auch Richard Alewyn, denn letztlich habe die Legende vom „ungesunden Ästheten“, der allem Irdischen entrückt sei, der „sich im Elfenbeinturm verrammelt und blasse Ideen in seltenen Formen züchtet“, nicht nur den literarischen Ruhm des frühreifen Wiener Gymnasiasten begründet, sondern die Fama seiner Person dauerhaft bis an die Schwelle des Todes geprägt, der den Mittfünfziger im Juli 1929 ereilte. Daß der Lyriker, Librettist, Dramatiker und Erzähler auch ein Intellektueller war, den der Erste Weltkrieg bis in die Haarspitzen politisiert hatte und den es seitdem drängte, die Paraderolle des Praeceptor germaniae zu spielen, ist hingegen gern ignoriert worden.

Daran hat auch Armin Mohler nichts geändert, der 1950, gleich in der ersten Auflage seines „Grundrisses der Weltanschauungen“ der „Konservativen Revolution“ pointierte, welcher Anteil Hofmannsthal an dieser modernekritischen Bewegung gebührt. Dessen Rede „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“, vor großer Kulisse gehalten im Januar 1927 im Audimax in der Münchener Universität, habe das ideologisch in vielen Farben schillernde Gewirr rechter Gruppen, Sekten, Kreise, Zirkel, Männerbünde, denen in der Weimarer Republik „die ganze Richtung“ nicht paßte, auf die paradox anmutende Formel von der „Konservativen Revolution“ (KR) gebracht. Zudem, dies für Mohler das zweite Verdienst, trug seine Rede zur Selbstaufklärung über den kleinsten Nenner bei, auf den sich ein derartig obergäriger Haufen einigen konnte: „Bindung und Ganzheit“. 

Armin Mohler machte eine Großschreibung daraus

Die prominente Plazierung in Mohlers 1972 zum Handbuch erweiterten, ideenhistorischen Standardwerk reichte jedoch nicht hin, um dem Homo politicus Hofmannsthal mehr Relief zu geben. Das einseitig auf den zeitlos schaffenden Künstler fixierte Bild begann sich erst mit Hermann Rudolphs Untersuchung über das „kulturell-politische Denken“ Hofmannsthals (1971) langsam zu verändern. Eine Zäsur, die in der Rezeptionsgeschichte den Primat des Poetischen durch den des Politischen ablöste, stellte erst die in den 1990ern einsetzende Zurichtung des Trauerspiels „Der Turm“ (1924) auf die politische Theologie des Staatsrechtlers und bundesrepublikanischen Gottseibeiuns Carl Schmitt dar. Ohne dessen Einfluß hätte Hofmanns-thals „literarischer Leviathan“ (Alexander Mionskowski, 2015) kaum Gestalt gewonnen.

Die Aufdeckung der Schmitt-Abhängigkeit vollzog sich parallel zum im Jahr 2000 ausgerufenen „Kampf gegen Rechts“. Womit sich unvermeidlich die Stilisierung des Dichters zum „Präfaschisten“ verband, die im Doktorandenseminar florierte. An kühnen Deutungen, die den Bogen vom Urheber des Salzburger „Jedermann“-Spektakels zu Leni Riefenstahls filmischen Inszenierungen der Nürnberger Reichsparteitage, vom katholisch kontaminierten Konservatismus des „Habsburgers a. D.“ zum atheistischen Nationalsozialismus seines Braunauer Landsmanns schlagen, herrscht seitdem kein Mangel.

Aus dem Nachlaß des Wiener Philosophiehistorikers und Judaisten Klaus Dethloff (1938–2017) ist jetzt eine Studie veröffentlicht worden, die dem Muster, das „Hofmannsthal als Steigbügelhalter des NS“ karikaturesk entstellt, genauso den Boden entziehen will wie dessen Vereinnahmung durch „rechtskonservative Kreise“ in der Weimarer Republik (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 4/2018). 

Anlehnung bei Max Weber und Martin Buber

Zu dem Zweck, Hofmannsthal gegen linken Bewältigungsfuror und rechte Umarmungen zu schützen, nahm Dethloff die Münchner „Schrifttum“-Rede nochmals unter die philologische Lupe. Dabei entging ihm nicht das bedeutsame orthographische Detail, daß Hofmanns-

thal von „einer“ kleingeschriebenen „konservativen Revolution“ sprach, während Mohler mit bestimmtem Artikel und Großschreibung daraus „Die Konservative Revolution“ zauberte. Auf die Rechtschreibung pochend, rekonstruiert Dethloff sodann, wer unter den vielen in der Rede beschworenen  „Suchenden“ – die im elitären Kreis des Antipoden Stefan George als „Geheimes Deutschland“ figurieren – wirklich die „geistige Nation“ verkörpert, die in der „Epoche der Wiederherstellung“ aus Krise und Chaos hinausführen soll. 

Der Adorno-Schüler Dethloff, der sich, wie es in einem Nachruf heißt, schon zu alt fühlte für den 68er-Karneval, der sich „wegen des Holocaust“ aber dem diffusen Gefühl hingab, in der Bonner Republik partout „geistigen Widerstand“ leisten zu müssen und der sich deswegen „jüdischen Denktraditionen“ zuwandte, will Hofmannsthal „retten“, indem er ihn aus dem KR-Milieu löst und ins Gravitationsfeld heute als politisch korrekt akzeptierter „Zentralgestirne“ versetzt. Denn vielen Übereinstimmungen zum Trotz: Nicht mit Mussolini-Bewunderern wie dem Prinzen Karl Anton Rohan, dessen Europa-Bewegung konsequent im „Anschluß“-Strudel von 1938 versunken sei, habe Hofmannsthal es wagen wollen, das „seit Jahrhunderten nicht mehr zur Kultur gebundene [deutsche] Volkstum“ zur „Ganzheit“ zu formen. Sondern mit den Stillen im Lande wie dem Juristen Florens Christian Rang. Der hatte sich nach 1918 vom konservativen Saulus zum pazifistischen Freund des Marxisten Walter Benjamin und zum Anwalt deutsch-französischer Verständigung bekehrt.

Geistige Anlehnung habe Hofmanns-thal ebenso bei dem linksliberalen Universalgelehrten Max Weber und bei Martin Buber mit seinen spekulationsfrohen Anhängern gesucht. Dethloff identifiziert diese Ex-post-Wunschpartner allesamt anhand von eingestreuten „Kryptozitaten“. Auf ihnen hätten des Redners Hoffnungen für die Realisierung seiner konservativen Utopie geruht, im Überlieferungsraum des „Schrifttums“ die weltanschaulich, politisch und ökonomisch „zerklüftete“ deutsche Nachkriegsgesellschaft geistig zu einen.

Zum konservativ-völkischen „Gelichter“ (Walter Benjamin) à la Rohan, von dem Dethloff  seinen Helden  nach Kräften abrückt, rechnet er auch den „unglückseligen“ Germanisten Josef Nadler, einen Österreicher, der seit 1925 in Königsberg lehrte. Von ihm, dem „Antisemiten“, habe der Redner sich gleich eingangs distanziert, weil in dessen Monumentalwerk, der vierbändigen „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“, nicht Geist und Kultur, sondern Blut und Boden Gemeinschaft stifteten. Mit völkischem Determinismus, so die Suggestion, habe Hofmannsthal also nichts am Hut.

Hier korrumpiert 68er-Ressentiment Dethloffs philologisches Ethos und offenbart in toto die anachronistische Fragwürdigkeit seiner Exegese. Denn einerseits ist Nadlers Determinismus aus Hofmannsthals Sicht eben kein völkischer. Wenn der Literaturhistoriker das Höhere des Menschen aus dem Niederen wie der Herkunft entwickle, was, so frug der Dichter, sei das anderes als ein Tribut an den materialistischen Zeitgeist nach Art des Freudianismus, der „jüdischen“ Psychoanalyse? 

Andererseits mahnt der erste Satz der Rede zwar – wohlgemerkt im Gleichklang mit und keineswegs in Abgrenzung zu Nadler –, bloßes „Wohnen auf dem Heimatboden“ reiche nicht aus, um Menschen zur Kulturgemeinschaft zu verbinden. Zur Bestätigung verweist Hofmannsthals zweiter Satz auf die Einwanderungsgesellschaft der USA. Aus dem Nebeneinander von Siedlern auf demselben Territorium sei dort gerade kein „Geist der Nation“ erwachsen, kein „eigentümlicher Zusammenhang“, wie er sich in den Kulturräumen Europas durch Geschlechter, Sprache, Geschichte und Überlieferung in Jahrhunderten gebildet habe.

Den zeitgenössischen, nach US-Vorbild konzipierten Gegenentwurf zu seinem Europa der Nationen, das supranationale „Pan-Europa“ des umtriebigen Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, der den Kontinent zur Freihandelszone und zum Siedlungsgebiet für eine von allen historisch-kulturellen Bindungen gelöste „eurasische Mischlingsrasse“ verwandeln wollte, hat Hofmannsthal in den 1920ern publizistisch bekämpft. Auf diesen Alteuropäer darf sich heute daher berufen, wer jenen EU-Autokraten mißtraut, die, worauf zuletzt Ulrich Schacht hinwies (Tumult, 2/2018), bei ihrem Krieg gegen die ethnisch homogenen Völker Europas zunehmend auf Coudenhove-Kalergis Visionen von der „Ender-lösung“ durch Völkervermischung rekurrieren. Angela Merkel konnte 2005 also umstandslos den Coudenhove-Kalergi-Europapreis als eine Art Anzahlung für ihre dem „Großen Austausch“ förderliche Politik der „illegalen Einschleusung  arabischer und nordafrikanischer Migrantenmassen“ entgegennehmen.

Bis zuletzt hielt Hofmannsthal übrigens unbeirrbar an seinem Urteil fest, kein Buch habe mehr als Josef Nadlers Werk dazu getan, „die Nation wahrhaft zu einigen“.