© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Gegen Eindringlinge das Land verteidigen
Klimawandel, Migrantenströme, Brexit: John Lanchester verschenkt mit seiner Dystopie „Die Mauer“ einen fesselnden Romanstoff
Markus Brandstetter

Großbritannien in nicht allzu ferner Zukunft: Rund um das ganze Land zieht sich eine Mauer aus Beton – 10.000 Kilometer lang, fünf Meter hoch und an der Krone drei Meter breit. Alle drei Kilometer steht ein Wachhaus für die Wachmannschaften, insgesamt mehr als 3.000. Weiter gibt es in regelmäßigen Abständen Kasernen, Krankenstuben, Hubschrauberlandeplätze, Wassertürme, Vorratslager, Munitionslager, Fahrzeughangars und Rampen, um Boote zu Wasser zu lassen. Und natürlich Treppen, Millionen rutschiger Treppen, auf denen die Mannschaften, die die Mauer Tag und Nacht bewachen, auf und ab gehen.

 Ach ja die Mannschaften: 300.000 Soldaten und Soldatinnen sind jeden Tag das ganze Jahr lang an der Mauer im Einsatz, exakt 50 Prozent Männer und 50 Prozent Frauen, und alles ganz ohne Diskriminierung, denn die Frauen wachen, kämpfen und sterben genauso wie die Männer. Sie alle zusammen machen die „Defender“ aus, die Verteidiger, die die Mauer gegen die „Others“ schützen, die Anderen.

Diese Anderen sind in der Hauptsache Afrikaner, gegen deren Eindringen sich Großbritannien nach einer globalen Katastrophe, die in diesem Roman immer nur „The Change“, der Wechsel, genannt wird, schützen will. Dieser mysteriöse Wechsel, der sich vor einem Menschenleben ereignet hat und von der jungen Generation im Roman den Alten angelastet wird, stellt ein Ansteigen des Meeresspiegels aufgrund einer Umweltkatastrophe dar, wodurch tiefergelegene Länder reihenweise überflutet wurden. Was genau den Wechsel ausgelöst hat, wird nie erklärt, aber es ist klar, daß dieser die Welt in zwei Gruppen aufgeteilt hat: die Staaten, deren Landmasse über dem gestiegenen Meeresspiegel liegt, und die anderen, deren Länder untergegangen sind, und die nun mit Schiffen und Flößen auf den Meeren herumfahren und mit aller Macht darum kämpfen, in die Länder, die es noch gibt, einzudringen. Wenn es sein muß mit Gewalt. 

Der Wechsel und die Abschottung Großbritanniens gegen die Anderen haben das Land in eine Diktatur verwandelt, in der eine vage als „Elite“ bezeichnete Oberschicht den Rest der Gesellschaft in einem permanenten Kriegszustand regiert. In diese Elite wird man nicht demokratisch hineingewählt, sondern nach Ausbildung und Leistung berufen.

Konturlose, uninteressante Haupt- und Nebenfiguren

Das ist der Hintergrund für den neuen Roman des britischen Schriftstellers John Lanchester. Er beginnt damit, daß der junge Joseph Kavanagh seine zweijährige Dienstzeit als Defender auf der Mauer antritt. Natürlich: Auf der Mauer ist es kalt, der Dienst, der daraus besteht, jeden Tag mit geschultertem Gewehr zwölf Stunden lang auf das graue Meer hinauszuschauen, ist langweilig, das Essen schlecht und der Sergeant wortkarg. Doch der junge Kavanagh kommt mit all dem einigermaßen zurecht, weil jeder Brite Dienst auf der Mauer tun muß und Kavanagh ohnehin nicht weiß, was er sonst mit seinem Leben anfangen soll.

Und damit sind wir beim ersten Problem des Romans: der uninteressanten Hauptfigur, die nichts kann, nichts will, nichts liebt, nichts haßt und auf 275 Seiten weder einen klugen Satz sagt noch einen interessanten Gedanken denkt. Mit den Nebenfiguren ist es nicht besser bestellt. Da haben wir einen knorrigen Sergeant, einen verschwiegenen Hauptmann, der streng nach Dienstvorschrift lebt, sich im nachhinein aber als Verräter herausstellt, einige hausbackene Verteidigerinnen, die unter ihren dicken Klamotten als Frauen nicht erkennbar sind, und noch mehr junge Männer, die auch nicht wissen, was sie wollen, und über die Mauer, die Welt, die Anderen und die ganze Misere, in der England sich befindet, nichts zu sagen haben. Schließlich gibt es da noch Hifa, die spätere Geliebte des Antihelden, die genauso gewöhnlich redet, denkt und handelt wie sie aussieht.

Voltaire hat einmal gesagt: Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur die langweilige nicht. Diesen coolen Spruch sollte sich John Lanchester für seinen nächsten Roman merken, denn „Die Mauer“ ist langweilig. Das liegt noch nicht einmal so sehr an der unwahrscheinlichen Handlung, zu der wir noch kommen, sondern an all diesen blassen und konturlosen Figuren. Das klassische Rezept für das Verfassen eines guten Romans lautete immer: Nimm eine Figur, die etwas von der Welt will und lieber zugrunde geht, als es nicht zu bekommen. Alle großen Romane haben solche Protagonisten: Werther will Lotte bekommen, der grüne Heinrich will Maler werden, Anna Karenina will aus einer lieblosen Ehe ausbrechen, Ahab will den weißen Wal töten, Gatsby möchte Daisy zurückgewinnen, Josef K. will wissen, warum er angeklagt wurde, Franz Biberkopf will frei sein, Stiller nicht er selbst sein und Harry Potter Lord Voldemort besiegen. 

Gute Romane brauchen starke Hauptfiguren. Und Nebenfiguren, die dem Willen und Wollen der Hauptfiguren Widerstand leisten, sie quälen, verfolgen, unterdrücken, ihnen Prügel zwischen die Beine werfen, ihnen auflauern, schaden und sie manchmal sogar umbringen. John Lanchesters JosephKavanagh jedoch will gar nichts außer dreimal am Tag einen Müsliriegel mit einem Becher Tee und am Abend ein warmes Bett. Ja, er will noch nicht einmal Sex mit Hifa – darauf muß die ihn erst bringen.

Ohne Urteil in einem Boot in der Nordsee ausgesetzt

Nun gibt es andere Romane, die ebenfalls über ein ziemlich durchschnittliches Personal verfügen, dieses Manko aber durch eine spannende Handlung wieder wettmachen. Viele Krimis, Thriller und Science-fiction-Romane fallen in diese Kategorie. Die Thriller John le Carrés sind nie mit überzeugenden Charakteren bevölkert, Stanislaw Lems Raumfahrer sind reine Schablonen, und so unterschiedliche Autoren wie Agatha Christie, Daphne du Maurier, Dan Brown, Stieg Larsson und Tom Clancy haben selten auch nur eine psychologisch glaubhafte Romanfigur zustande gebracht. Aber dafür haben sie etwas anderes: eine mitreißende Handlung, die oft in einem nervenzerreißenden Höhepunkt kulminiert und in einem überraschenden Schluß endet.

„Die Mauer“ kann damit leider auch nicht aufwarten. Nachdem die Defender eine erste Attacke der Anderen zurückgeschlagen haben, kommt irgendwann endlich der große Angriff auf die Mauer, auf den ihre Bewacher sich seit Jahren vorbereiten. Der fällt schlimmer aus als der erste, aber nur deshalb, weil der bislang übereifrige Hauptmann sich als ein früherer Anderer erweist, der die Aggressoren unterstützt. Doch bald sind sie überwältigt, und an der Mauer herrscht wieder Ruhe. Außer für Kavanagh, seine Freundin Hifa und eine Handvoll anderer Armleuchter, die beim Kampf gegen die Anderen aus Sicht nie genannter Vorgesetzter versagt haben, weshalb sie ohne Gericht und Urteil in der Nordsee in einem Boot auf Gedeih und Verderb ausgesetzt werden. Nun müssen sie noch ein Abenteuer im Kampf gegen Piraten bestehen, bis alles in einem kläglichen Ende verlischt.

Das ist schade, denn John Lanchester schreibt eine sachlich-kühle, präzise Prosa, wie man sie aus den Romanen Eric Amblers oder George Orwells kennt. Der Autor ist hier eindeutig an einem großen Thema dran, das, spannend erzählt, sehr viel hergeben würde. Der „Klimawandel“ ist jeden Tag in den Nachrichten, Großbritannien laboriert am Brexit wie an einer schweren Krankheit, und Donald Trump will zwischen den USA und Mexiko eine Mauer errichten. Ein Autor mit Phantasie, Wirklichkeitssinn und einer gehörigen Portion literarischer Fabulierlust könnte mit diesem Stoff im Hinterkopf eine absolut fesselnde Version unserer Zukunft entwerfen. John Lanchester ist leider nicht dieser Autor. 

John Lanchester: Die Mauer. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2019, gebunden, 348 Seiten, 24 Euro