© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Der Krieg, der alle Kriege beenden sollte
Versailles: Eckart Conze will den Deutschen eine „Große Illusion“ nachweisen, unterliegt aber selbst einem amerikanischen Traum.
Karlheinz Weißmann

Versailles“ war eine Chiffre der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Betonung liegt auf „war“. Denn zu den Erfolgen der jüngeren Vergangenheitspolitik gehört auch, die Bedeutung des Versailler Vertrages von 1919 vergessen gemacht zu haben. Das neue Buch des Historikers Eckart Conze ändert daran nichts, trotz seiner 560 Seiten und trotz der Ausbreitung all dessen, was über die Zeit erfaßt, erforscht und analysiert worden ist. Die Faktenmenge und die Breite der Erzählung führen eher dazu, die Bedeutung des Ereignisses zu verdunkeln, nicht zu erhellen.

Das zeigt sich bereits während der Lektüre des ersten Viertels, das allein die Vorgeschichte von Versailles behandelt. Die beginnt mit einem Abschnitt zu den Kriegszielen, führt über den Politikansatz des amerkanischen Präsidenten Woodrow Wilson und der Bedeutung seines Friedensplans in den „Vierzehn Punkten“ zum „Deutschen Diktat“ – dem Frieden von Brest-Litowsk mit dem revolutionären Rußland – und endet beim Zusammenbruch des Reiches im Herbst 1918.

Conze nimmt in dem Zusammenhang auch auf die „Lansing-Note“ Bezug. Jenen durch den amerikanischen Außenminister Robert Lansing formulierten Text, in dem der deutschen Seite die alliierten Forderungen mitgeteilt wurden. Entscheidend ist für den Zusammenhang, daß Conze die Bedeutung des Textes und die ausdrückliche Anerkennung von Wilsons „Vierzehn Punkten“ als Grundlage eines Friedensschlusses von beiden Seiten systematisch herunterspielt.

Mit dieser Feststellung wird nichts dagegen gesagt, daß man über Aspekte des diplomatischen Verkehrs unter erschwerten Bedingungen unterschiedlicher Auffassung sein kann. Aber Conze geht es gar nicht um solche Feinheiten, sondern um eine mehr politisch- als historisch-korrekte Stellungnahme: gemeint ist die deutliche Abgrenzung gegen das „in den deutschen Revisionsanstrengungen nach 1919, aber auch von Kritikern des Versailler Vertrages auf alliierter Seite vorgebrachte und in der deutschen wissenschaftlichen Literatur noch weit nach 1945 aufgegriffene Argument, die Lansing-Note sei eine völkerrechtlich bindende Verpflichtung gewesen“.

Damit ist eine Linie vorgegeben, die Conze nicht mehr verläßt. Für ihn ist das Verhalten der deutschen Seite entweder von Arroganz oder von Ahnungslosigkeit bestimmt, die der Entente verdient dagegen Empathie oder Verständnis. Das endet im Grunde nur, wenn die „weißen Sieger“ – im Vollgefühl, die Menschheit zu repräsentieren – dem „farbigen Mitsieger“ Japan die Gleichberechtigung verweigern, hurtig die wertvolle Beute aufteilen, Juden und Araber im Nahen Osten gegeneinander ausspielen und alles tun, um das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht auf ihre Kolonien übergreifen zu lassen.

Conze zögert, Doppelmoral auf beiden Seiten gleich zu benennen

Conze sieht durchaus, daß es keine Schönheitsfehler waren, die in den „Vorortverträgen“ neben dem Hauptvertrag von Versailles fixiert wurden. Aber er ist nicht willens, das, was im einen Fall Doppelmoral und Eigennutz genannt werden muß, auch im anderen Fall so zu nennen. Ihm erscheint das deutsche Entsetzen über die Friedensbedingungen – die Höhe der Kontributionen, die Gebiets- und Bevölkerungsverluste – unverständlich, das Beharren auf dem Gleichbehandlungsgrundsatz naiv, die Verräterei der Linksradikalen idealistisch und die Entschlossenheit der Reichsregierung, die Erfüllung der Vertragsbedingungen äußerstenfalls voranzutreiben, um die Unerfüllbarkeit nachzuweisen, als frivoles Spiel mit dem Weltfrieden und Verweigerung gegenüber der „Offenheit und Flexibilität des Vertrags“ sowie den großartigen „Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten“, die eine „friedliche internationale Ordnung“ geboten habe.

Im Grunde verlangt Conze, die amerikanischen Deklamationen bei Kriegs-eintritt wörtlich zu nehmen und trotz ihrer Untauglichkeit als Maßstab zu betrachten: Der Erste Weltkrieg sollte ein Krieg sein, um alle Kriege zu beenden, und er sollte die Welt sicher für die Demokratie machen. Wenn das 1919 ersichtlich nicht gelungen war und alle guten Absichten Wilsons an der politischen Realität scheiterten, um so schlimmer für die Realität.

Eine Haltung, die es Conze nicht nur erlaubt, die Wunderlichkeit und Inkompetenz Wilsons in mildem Licht erscheinen zu lassen, sondern auch, die Rachsucht des französischen Premierministers Georges Clemenceau wie den seit langem genährten Nationalhaß der Franzosen oder die schwankende Haltung des britischen Premiers David Lloyd Georges samt dem kaum verhohlenen Triumph der Briten über den lästigen Konkurrenten als nebensächlich abzutun.

Nichts davon ist ohne Hinweis auf Conzes erkenntnisleitendes Interesse zu verstehen: Wenn er das erste Kapitel seines Buch mit „Der Krieg der Illusionen“ überschrieben hat, zitiert er einen Buchtitel Fritz Fischers, der seit den 1960er Jahren zu jenen „Superrevisionisten“ (Gerhard Ritter) gehörte, die alles taten, um ein Geschichtsbild zu verankern, das die deutsche Generalschuld nicht auf das NS-Regime und den Zweiten Weltkrieg beschränkte, sondern auf das Kaiserreich und den Ersten Weltkrieg ausdehnte. Damit wurde keine wissenschaftliche Zielsetzung verfolgt, sondern eine politische. Es ging um die systematische Zerstörung derjenigen Elemente der kollektiven Erinnerung, die eine wesentliche Grundlage des Nationalbewußtseins bildeten: Es sollte den Deutschen das Argument aus der Hand geschlagen werden, daß „1939“ nicht ohne „1919“ zu verstehen sei, so wenig wie „Hitler“ ohne „Versailles“.

Daß Conze sich dem Erbe Fischers verpflichtet fühlt, gesteht er freimütig zu. Weshalb es ihm mit seinem Buch nur nebenbei darum geht, „wie es eigentlich gewesen ist“, oder um eine sachliche Auseinandersetzung mit denen, die neuerdings die Korrektur der von Fischer und seinen Nachbetern in die Welt gesetzten Vorstellungen. Im Zentrum steht die Bekämpfung ideologischer Gegner, jener nämlich, die „ein neues deutsches Selbstbewußtsein und Bekenntnisse zu einer stärker von Eigeninteressen geleiteten Nationalstaatlichkeit“ mit einer neuen Sicht auf die deutsche Vergangenheit verknüpfen wollen.

Eckart Conze: Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt. Siedler,  München 2018, gebunden, Abbildungen, 560 Seiten, 30 Euro