© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Frieden ist ein Ausnahmezustand
Irritation in einer pazifistischen Welt: In seinem Vermächtnisband widmet sich der 2016 verstorbene Gelehrte Rolf Peter Sieferle dem Krieg
Oliver Busch

Im Vorwort seines aus dem Nachlaß herausgegebenen Werkes „Krieg und Zivilisation“ erinnert sich der Universalhistoriker Rolf Peter Sieferle (1949–2016) an seine ersten Semester. 1968, als er sein Studium der Geschichte begonnen habe, sei die Befassung mit dem Krieg so ziemlich das Entlegenste gewesen, was man sich vorstellen konnte. An den „zivilen“ bundesdeutschen Universitäten stand Kriegsgeschichte nicht auf dem Lehrplan. Weder im Schulunterricht noch im Studium spielt das in eine „finstere Vergangenheit“ verbannte Thema „auch nur die geringste Rolle“. Selbst bei der seminaristischen Behandlung des Ersten Weltkrieges sei das konkrete Kriegsgeschehen einfach ignoriert worden. Stattdessen regierte die Sozialgeschichte und der „Primat der Innenpolitik“.

Während eines London-Besuchs erlebte der Student Sieferle dann einen regelrechten Kulturschock. In den Buchhandlungen dort erstaunten ihn viele Regalmeter mit militärwissenschaftlicher Literatur. Überwältigt vom üppigen Angebot, erwarb er auf gut Glück „The Face of Battle“ von John Keegan. Diese Monographie des britischen Matadors unter den Militärhistorikern weckte dann Sieferles lebenslänglich anhaltendes Interesse an Kriegsgeschichte. 

Aus dem intensiven „Nachdenken über den Krieg“ ist schließlich der vorliegende Band entstanden. Der nicht, der Leser sei gewarnt, eine modernisierte Fortsetzung des letzten deutschen Klassikers auf diesem Felde ist, der vierbändigen „Geschichte der Kriegskunst“ von Hans Delbrück (1848–1929). Sieferle arbeitet sich dagegen nicht an der Chronologie der Schlachten ab und will ausdrücklich keine „Geschichte der operativen Kriegsführung“ schreiben. Sie kommt freilich vor, wie er auch technische und politische Faktoren berücksichtigt, aber im Vordergrund steht die historische Reflexion über den Krieg, die Versuche zu seiner Zivilisierung und die Rückfälle in die Barbarisierung, von denen das 20. Jahrhundert gezeichnet ist.

Eine kooperative Spezies trägt ihre Konflikte auch kooperativ aus

Sieferle geht bei seinem Mammutunternehmen von einer schlichten Prämisse aus: „Krieg ist eine Universalie der Menschheitsgeschichte, da eine kooperative Spezies ihre Konflikte auch kooperativ austrägt.“ Kriege prägen daher die menschliche Existenz seit ihren Anfängen, nach der Vertreibung aus dem mythischen Paradies der Friedfertigkeit. Schon Jäger und Sammler kämpften um Territorien, Beute, Ehre. Dreißig Prozent der Männer, so schätzen Prähistoriker, starben in diesen unsteten Zeiten eines gewaltsamen Todes. In den antiken und mittelalterlichen Agrargesellschaften wird der Krieg um Land als der Zentralressource dieser Gesellschaften geführt. Krieg etabliert sich in den tribalen wie in den komplexen, staatlich organisierten Agrargesellschaften geradezu als „Dauerphänomen“, weil sein Nutzen (Beute, Eroberung, Machtgewinn) in einem günstigen Verhältnis zu den Schäden stand, denn die landwirtschaftliche Produktion erholte sich relativ rasch von den Zerstörungen, so daß das kriegerische Spiel bald von neuem beginnen konnte.

Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein erlebt die Bevölkerung, von Ausnahmen wie dem amerikanischen Bürgerkrieg abgesehen, den Krieg nur passiv. Das ändert sich mit den „totalen“, nationalstaatlich organisierten Kriegen der Industriegesellschaften, die den Unterschied zwischen „Front und Heimat“ zunehmend aufhoben und den Staatenkrieg tendenziell in einen Volkskrieg verwandelten. 

Die zum Ende des Zweiten Weltkrieges von den USA gegen Japan eingesetzte Atombombe eröffnete das Zeitalter des Kalten Krieges, das dem globalen Norden einen paradoxen vierzigjährigen Frieden im Schatten von Massenvernichtungswaffen bescherte. Zugleich erlitt der Krieg einen rapiden Legitimitätsverlust. Ein Prozeß, der in Westeuropa und vor allem in der Bonner Republik, wie die Erfahrung des Geschichtsstudenten Sieferle zeigt, mit einer weitverbreiteten „postheroischen Mentalität“ korrespondierte. Der Pazifismus wurde zum Grundgefühl einer Generation, die das Freund-Feind-Verhältnis als anthropologische Konstante aus ihrem Weltbild eliminierte, um sich One-World-Träumen vom Weltfrieden durch Weltgesellschaft hinzugeben. 

Gerade diesen in den 1990ern in die politische Verantwortung gerückten Utopisten könnte Sieferles Werk mit seiner zwingenden Logik und einer an Hegel und Marx geschulten scharfen Dialektik ein Vademekum sein. Vor allem die letzten hundert Seiten, die über den asymmetrischen Krieg, den Terrorismus und den Cyberkrieg handeln, könnten, hielte man gegen alle Erfahrung die bundesrepublikanische Politelite für vernunftbegabt und lernfähig, deren Gesinnungswandel einleiten und den Systemsturz noch verhindern.

Der Westen ist schlecht gerüstet für den Zusammenstoß der Kulturen

Verbleibt die Berliner „Titanic“ hingegen auf ihrem aktuellen Kurs, so läßt sich an den Zukunftsszenarien ablesen, die Sieferle aus seinen Analysen gegenwärtiger Konfliktkonstellationen extrapoliert, ist die Kollision mit dem Eisberg gewiß. Sie ergibt sich aus dem Zusammenstoß der Kulturen, die sich in einer Kriegsform des 21. Jahrhunderts, im islamischen Terrorismus, bereits weltweit ankündigt. Dafür sieht Sieferle den Westen, bei aller technologischen Überlegenheit, schlecht gerüstet. Weil zwei Erklärungsmuster für den dschihadistischen Terrorismus eine realistische Lagebeurteilung nicht zulassen. Einerseits deuten die Europäer diese Kriegsform in sozialen Kategorien und halten „Armut und Ungerechtigkeit“ für ihre wahren Ursachen. Der Terrorismus müßte daher durch eine Globalisierung des Sozialstaats auszutrocknen sein. Deswegen hat sich die Bundesrepublik inzwischen zum Weltsozialamt globalisiert. Die US-Amerikaner bevorzugen eine Deutung in politischen Kategorien: die islamischen Gewaltkulturen litten an einem Mangel an Demokratie. Daraus folgt, daß durch kriegerische Interventionen undemokratische Regime gestürzt und Demokratie globalisiert werden müßte. Dann werde mit dem Terrorismus sogar der Krieg überhaupt aus der Welt verschwinden.

Beide Modelle seien bloße Projektionen eigener Ideologien. Denn islamische Terroristen leiden weder unter Armut noch unter Demokratiemangel. Sie sehen vielmehr den Westen als Bedrohung ihrer kulturellen Identität. Der Westen sei für sie der strukturelle Angreifer, aufgrund seines ökonomischen Erfolgs und seiner hedonistischen Verheißungen. „Genau in dieser permissiven Welt“ wollten gläubige Muslime nicht leben. Weder in ihren Herkunftsregionen noch als Einwanderer in nichtmuslimischen Räumen, weshalb es für sie auch dort keine „Integration“ geben könne. Für den Typus des islamischen Selbstmordattentäters sei der westliche Hedonist darum der „absolute Feind“. 

In ihrer gegenwärtigen Verfassung dürften westliche Gesellschaften diese existentielle Feindschaft kaum aushalten, die sich bisher darauf richtet, die labile mentale Infrastruktur der Europäer terroristisch anzugreifen und sie durch den Aufbau von Parallelgesellschaften zu destabilisieren. 

Rolf Peter Sieferle: Krieg und Zivilisation. Eine europäische Geschichte, Landtverlag, Berlin 2019, gebunden, 1.497 Seiten, 78 Euro