© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Ein rücksichtsloser Hegemon
Der langjährige „Zeit“-Herausgeber Theo Sommer legt ein bemerkenswertes Buch über den Aufstieg Chinas zur Weltmacht Nummer eins vor
Albrecht Rothacher

Man mag angesichts des Autors Vorbehalte haben. Theo Sommer, jahrzehntelang Chefredakteur und Herausgeber der Zeit, hat bekanntlich noch 1989 die deutsche Einheit abgelehnt, von der „stillen Verehrung“ der DDR-Bürger für Honecker geschwafelt und das Kriegsrecht in Polen im Namen der Stabilität begrüßt. Bekommen wir also eine Jubelschrift für Xi Jinping, Chinas Diktator auf Lebenszeit? Weit gefehlt. 

In seinem positiv überraschenden Alterswerk urteilt der 84jährige ausgewogen und kritisch. Das Buch mischt Plaudereien von seinen Reiseimpressionen der letzten Jahrzehnte, angefangen von jenen mit Helmut Schmidt, den er häufig verehrungsvoll zitiert, bis zu fakten- und datengespickten Analysen der chinesischen Wirtschafts- und Regionalentwicklung, ihrer systematischen Firmenaufkäufe in Deutschland und Europa, den Seidenstraßen-Initiativen, ihrer Balkan-, Zentralasien-, Afrika- und Lateinamerikapolitik. Spannend, wie die alte Politik, Rohstoffquellen im Ausland zu erschließen und zu kontrollieren von einer neuen Strategie ergänzt wird, weltweit Verkehrsinfrastrukturen zu bauen, Beteiligungen zu kaufen und von Staatsfirmen zu kontrollieren. Dazu zählen allein im Mittelmeer Piräus, Thessaloniki, Port Said, Alexandria, Haifa, Venedig, Genua, Neapel, Valencia sowie Häfen in der Türkei und Algerien, in der Ostsee Memel (Klaipeda) und in der Nordsee Zeebrügge und Rotterdam.  

Sommer beschreibt die Hegemoniebestrebungen von Xi Jinping, mittelfristig die USA wirtschaftlich und militärisch zu überholen und zum „Zentrum der Weltbühne“ zu werden. Es handelt sich also nicht mehr um das Konzept der Kaiserzeit von Tribut- und Vasallenstaaten von Tibet bis Korea. Aktuell vertritt China deshalb aggressiv seine Territorialinteressen: Tibet und Xinjiang als zu sinisierendes Hinterland, die Ansprüche auf die nordostindische Provinz Arunachal Pradesh („Süd-Tibet“), im Südchinesischen Meer mit dem Ausbau militarisierter Atolle, und gegenüber Taiwan und den Senkaku-Inseln zum strategischen Ausbruch aus der „ersten Inselkette“ der USA in den Pazifik und den Indischen Ozean. Unterstützt wird dies von einem aggressiven Flottenrüstungsprogramm – weg vom alten maoistischen Massenheer – mit Atom-U-Booten und Flugzeugträgergruppen.

Intern hat Xi mit seinen Antikorruptionskampagnen alle potentiellen Rivalen in der Partei-, Staats- und Armeeführung gesäubert, durch eigene Gefolgsleute ersetzt und genießt damit eine ähnliche Machtfülle wie seinerzeit Mao, wobei der einsetzende Personenkult erst rudimentär ist. Die Allmacht der Partei hat er durch die Gründung von Parteizellen in allen Unternehmen, auch Auslandsfirmen, wiederhergestellt, denen die Firmenleitungen rechenschaftspflichtig sind. Auch die roten Milliardäre haben Parteibefehlen zu folgen. Gelegentlich werden einige, wie der Eigner der Anbang-Versicherung, zur allgemeinen Abschreckung verhaftet und enteignet. 

Chinesischer Überwachungsstaat nutzt alle technischen Innovationen

Die Bürger leben mittlerweile in einem digitalen Überwachungsstaat. Ihr Tun und Lassen wird mit allgegenwärtigen Kameras mit Gesichtserkennung, der Kontrolle der sozialen Medien, von Internetkäufen und Zahlungsbewegungen umfassend überwacht und in einem „Sozialkreditsystem“ gewürdigt, das unsoziales Tun und Gedankendelikte bestraft, bis hin zu schwarzen Listen, auf deren Eintrag der Arbeitsplatzverlust und Sippenhaftung folgt. Gleichzeitig wird in Tibet und im uigurischen Xinxiang eine brutale Sinisierungspolitik mit Massen-Umerziehungslagern und der systematischen Ansiedlung von Han-Chinesen verfolgt.  Die chinesische Bevölkerungsmehrheit wird derweil mit Wohlstandsversprechen und Konsumvergnügen ruhiggestellt.

In Sommers Prognose wird das chinesische Jahrhundert das amerikanische ablösen, mit oder ohne Platzen der Immobilien- und Schuldenblase, die seinerzeit dem vor drei Jahrzehnten prognostizierten „Japanischen Jahrhundert“ 1990 den Garaus gemacht hatte. Die aktuelle US-amerikanische wirtschaftliche und militärische Gegenwehr wird daran nichts ändern. Man kann dem Autor sicher zustimmen, daß eine chinesisch dominierte Weltordnung mit Demokratie, freier Marktwirtschaft, Menschenrechten und internationalem Recht nur noch sehr wenig zu tun haben wird. Ob man das gut findet, steht auf einem anderen Blatt. Gelegentlich haben sich in diesem umfassenden Werk auch Fehler und Wiederholungen eingeschlichen. So sackte der russisch-chinesische Handel 2015 nicht wegen einer chinesischen Wirtschaftskrise, sondern wegen Rußlands Rezession ab. Die japanischen Senkaku-Inseln werden von Taiwan nach einem bilateralen Fischereiabkommen nicht mehr beansprucht. Es ist auch falsch zu behaupten, daß die westlichen Wirtschaftssanktionen nach der Annexion der Krim russische Exporte getroffen haben. 

Im Fall des Massakers von Nanking von 1937 gibt Sommer ungeprüft und ohne Vorbehalte die umstrittenen Opferzahlen der chinesischen Propaganda (bis 300.000) an. Neben allzuviel Wiederholungen im Buch verzichtet Sommer als altgedienter Journalist auf saubere Quellenangaben und Fußnoten. Dagegen ist das Kartenwerk des Bandes vorbildlich, etwa zu den chinesisch-indischen Grenzdisputen im Himalaja und zu den umfangreichen Gebietsabtretungen Chinas an Rußland in den letzten noch bestehenden verhaßten ungleichen Verträgen von 1858 und 1860, die in Südsibirien von dem fruchtbaren, sich entvölkernden weiten Amur-Becken über Komsomolsk bis nach Wladiwostok in Primorje reichen und deren mögliche, ja langfristig wahrscheinliche Revision noch enormen Sprengstoff birgt. Nicht umsonst ist der fernöstliche russische Militärbezirk mit vier Armeen der stärkste und mit Mittelstreckenraketen am besten bewaffnet. In Summe ist dies ein spannendes, gut recherchiertes, dicht geschriebenes und lesenswertes Buch. 

Theo Sommer: China First. Die Welt auf dem Weg ins chinesische Jahrhundert. Verlag C.H. Beck, München 2019, gebunden, 480 Seiten, Abbildungen, 26 Euro