© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Abstieg eines Greisenheims
Der „Spiegel“-Korrespondent Wieland Wagner widmet sein Buch dem großen Problem der demographischen Entwicklung Japans
Jürgen Liminski

Dies ist ein ernstes Buch. Der Spiegel-Korrespondent Wieland Wagner beschreibt mit vielen Details aus Begegnungen und Erinnerungen, mit Vergleichen von früher zu heute den Abstieg Japans in Würde von einer führenden Wirtschaftsmacht zu einer mäßigen Mittelmacht und hält damit Deutschland einen Spiegel vor die Nase. Denn der Grund für den Abstieg ist die Vergreisung. Japan ist heute das älteste Land der Welt, und Wagners röntgenhafte Beobachtungen zeigen die Folgen dieser Alterung für Gesellschaft und Wirtschaft auf – Folgen, die auch Deutschland drohen und die hier weitgehend von der Politik verdrängt werden. „Am Beispiel Japans läßt sich nicht nur die Vergänglichkeit von Erfolg studieren, sondern auch die Flüchtigkeit der oft allzu kurzatmigen, euphorischen oder alarmistischen Prognosen zeitgenössischer Ökonomen und Journalisten“, schreibt der seit mehr als zwei Jahrzehnten aus Asien berichtende Autor. Man mag das auch als einen kleinen Seitenhieb auf sein eigenes Blatt verstehen, das solche Zeitgenossen oft zu Wort kommen läßt, gerade wenn es um den demographischen Wandel geht. Andererseits gibt Wagner auch seine publizistische Herkunft zu erkennen, wenn er Tokios Festhalten an der Kernenergie als „ideologisch verbohrt“ bewertet und seine Probleme mit der Regierung Abe vor allem im Kapitel V (Gesucht: Eine Überlebensstrategie) ausbreitet.

Problem des Fachkräftemangels ist in Japan offenkundig

Aber das schmälert die Verdienste des Korrespondenten nicht, wenn es um das zentrale Kapitel eins geht. Schonungslos schildert Wagner darin die durch die Alterung entstehenden gesellschaftlichen Zustände anhand von vielen fast bedrückenden Beispielen. Dabei verharrt er nicht bei Einzelschicksalen. Wagner geht von offiziellen Statistiken aus, zum Beispiel: „1963 hatte Japan 153 Überhundertjährige, 2016 waren es 65.692“; oder: „Seit neun Jahren in Folge schrumpft die Bevölkerung. Per 1. Januar 2018 lebten im Land über 123,2 Millionen Japaner, das waren 374.055 weniger als im Vorjahr. (...) Weit über ein Viertel der Bevölkerung – exakt 27,66 Prozent – war 65 Jahre alt oder älter. Damit war der Anteil der Alten bereits mehr als doppelt so hoch wie jener der unter 15jährigen“. 

Damit zeigt er die Entwicklung auf und illustriert diese dann mit Schicksalen und Begriffen. Zum Beispiel Kodukushi – Tod in Einsamkeit, ein Phänomen, „das längst zum Alltag gehört“. Gerade dieses Thema wird in Deutschland beharrlich verdrängt, obwohl Experten wie Manfred Spitzer zunehmend darauf hinweisen. Denn das ist die schlimmste Folge des demographischen Niedergangs, die emotionale Verarmung einer Gesellschaft, was sich eben in Einsamkeit niederschlägt. 

Ein anderer Begriff, „der immer öfter in den japanischen Nachrichten auftaucht“, macht dieses Phänomen noch deutlicher: Kaigo Satsujin – Pflegemord. Meist handelt es sich um Morde an den Eltern oder engen Angehörigen, aus Verzweiflung, Überforderung oder gar im Einvernehmen mit den Opfern. Wagner erzählt auch hier nachgehend nüchtern und schnörkellos. Und an anderer Stelle geht er auch auf die Ursachen ein, zum Beispiel wenn er über den Leistungsdruck und den drohenden Gesichtsverlust (für Asiaten generell wie eine Selbstaufgabe) an der Arbeitsstelle oder auf die Kinder und Jugendlichen berichtet. Leider beschreibt er nicht die Verbindung zwischen Humanvermögen oder den Fähigkeiten zur Bewältigung von Alltagsproblemen und der Erziehung. 

Natürlich geht Wagner auch auf das offenkundige Problem des Fachkräftemangels ein, das Japan mit einer zielgenauen Einwanderungspolitik angehen will. Hier sollen vor allem Asiaten zum Zuge kommen. Für ein Land, das bisher lieber länger arbeiten ließ, ist das eine Wende. Aber die Vergreisung läßt keine andere Wahl, wenn die Produktivität erhalten bleiben soll. Auch wenn Japan aus vielerlei Gründen „kein Vorbild sein kann für Deutschland“, hier wäre es eines.

Wieland Wagner fängt sein Buch über den Abstieg Japans an mit dem Kapitel „Land ohne Hoffnung“ und beendet es mit der Zuversicht in die Institution des Tenno, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Nation garantiere und auch die Reformkraft des Landes verkörpere. Darin kann man einen Widerspruch sehen, zumal auch das Kaiserhaus sich wegen der Alterung der japanischen Gesellschaft Sorgen macht. Aber das Kaiserreich ist insgesamt zu komplex, seine Geschichte, die Wieland gekonnt skizziert, offensichtlich zu vielschichtig, um ein bündiges, definitives Urteil zu fällen. Für einen Eindruck über Japan insgesamt und was Deutschland „blüht“, wenn es keine konsequentere Bevölkerungspolitik betreibt, ist das Buch aber allemal eine lohnende Lektüre. 

Wieland Wagner: Japan – Abstieg in Würde. Wie ein alterndes Land um seine Zukunft ringt. DVA, München 2019, gebunden, 255 Seiten, 20 Euro