© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/19 / 22. März 2019

Der Grund der Krise
Anregend und stellenweise brillant – aber leider blind für die konservative Sicht – analysiert Florian Meinel unseren Parlamentarismus
Nicolaus Fest

Erosion der Volksparteien, wuchernde EU-Gesetzgebung, Grundsatzentscheidungen wie Atomausstieg, Grenzöffnung oder Euro-Rettung ohne Einbindung des Parlaments. Dazu eine extensive, die Fachressorts entmachtende „Chefsachen“-Politik des Kanzleramtes sowie schwere Vollzugsdefizite bei Bundesgesetzen. Deutschlands Regierungssystem, so Florian Meinel, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Würzburg und Autor eines verfassungsrechtlichen Blogs, ist in der Krise. Nicht nur die Wähler neuer Parteien stellen, so der Titel des Buches, die „Vertrauensfrage“. 

Wie dieser Vertrauensverlust behoben werden kann, hängt ab vom Grundgesetz, den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und davon, wie die Funktion des Parlaments definiert wird. Die aber ist seit jeher wenig eindeutig. Anders als Präsidialsysteme mit ihrer klaren Trennung von Regierung und Parlament herrscht im Parlamentarismus nicht Gewaltenteilung, sondern Gewaltenfusion. Die Regierung ist, anders als beispielsweise der amerikanische Präsident, abhängig vom Parlament. Ohne die Parlamentsmehrheit der Regierungsparteien ist es mit der Regierung vorbei. Das Parlament trägt mithin die Regierung – und ist mittelbar Teil der Exekutive. Pointiert bemerkte der große Staatsrechtler Ernst Friesenhahn, die „Staatsleitung stehe Regierung und Parlament gewissermaßen zur gesamten Hand zu“.

Schon das ist eine seltsame Gemengelage. Befördert wird sie durch ein Grundgesetz, das wenig zum Verhältnis von Regierung und Parlament sagt – und auch kaum etwas zur Rolle der Länder, obwohl zuständig für den Vollzug der meisten Bundesgesetze. Doch weder Regierung noch Bundestag haben hier – die Abschiebemisere zeigt es – Einfluß oder Kontrolle. Zusätzlich trägt auch das Bundesverfassungsgericht zur systemischen Verwirrung bei: Soll das Parlament die Wahlentscheidung „spiegelbildlich“ abbilden oder liegt sein Fokus auf der Gesetzesgestaltung als „Arbeitsparlament“? Muß es bei allen „wesentlichen“ Entscheidungen als herrschende Körperschaft mitwirken oder sich, wie andere Karlsruher Entscheidungen nahelegen, auf Monitoringaufgaben beschränken? Und wie läßt sich die Gesetzgebung der Europäischen Union mit der Wesentlichkeits-Theorie vereinbaren, konkret: Ist ein Brüsseler Dieselverbot mit erheblichen Vermögensverlusten für Tausende Deutsche wesentlich oder nicht? 

Doch wie so häufig bei gewachsenen Organisationen: Sie funktionieren auch ohne Systematik und klare Theorie. Das aber macht die Antwort, wie die angebliche Krise des deutschen Parlamentarismus’ gelöst werden kann, nicht einfach – und auch Meinel scheitert daran, und mit Ansage. Denn bei aller gedanklichen Klarheit wird der blinde Fleck seiner Betrachtungen überdeutlich: Jede Kritik aus konservativ-realistischer Sicht an Praxis und System des parlamentarischen Betriebs ist tabu oder lediglich Anlaß zu Gehässigkeiten: Keine Erwähnung der AfD ohne abwertende Konnotierung, und auch Skeptiker wie Egon Flaig, Peter Sloterdijk oder Hans Herbert von Arnim sind sämtlich „wütende, alte Männer“ – obwohl das im Bundestag eher als Domäne der Herren Kahrs, Schulz, Hofreiter und Özdemir erscheint.

Mit seinen Ausfällen entwertet Meinel nicht nur den wissenschaftlichen Charakter seiner Arbeit; vielmehr führen sie ihn auch argumentativ in die Irre. Hymnisch preist er Lobbyismus und Ämterpatronage, lamentiert über das „latente Ressentiment“ von Lobbycontrol oder Abgeordnetenwatch und konstatiert, daß „gute Politik nur von Berufspolitikern gemacht werden kann“. Das alles wirkt wie: Weil es die AfD kritisiert, muß ich es loben. Und irgendwann fragt man sich: Warum redet Meinel überhaupt von „Krise“, wenn alles so golden ist – und wieso stellen die Wähler millionenfach die „Vertrauensfrage“?

Die Crux von ausführender und gesetzgebender Gewalt

Wohl auch deshalb fallen Meinels Antworten auf die „Krise“ unentschlossen aus. Das Wahlrecht will er nicht anfassen, obwohl ein reines Verhältniswahlrecht auf Bundes- und ein Mehrheitswahlrecht auf Landesebene seinen Charme hätte. Eine Übertragung der Vollzugskompetenz von den Ländern auf den Bund wird nicht thematisiert, auch nicht ein Verbot der immer neuen Ressorts im eigentlich ressortfreien Kanzleramt, seien es die Stabsstellen für Integration, Kultur, Flüchtlinge, Digitalisierung oder Europapolitik. Und ernsthaft erörtert Meinel die Teilung des Bundestags in eine gesetzesgebende und eine regierungstragende Kammer. Doch solche Abstrusitäten sind kaum mehr als ein Zeichen, daß man keine Antworten hat. 

Schade. Denn ansonsten ist das Buch anregend, geistreich, stellenweise brillant. Die Brüche des deutschen Parlamentarismus macht es ebenso deutlich wie die absehbaren Sackgassen der Karlsruher Rechtsprechung oder die Gefahr einer quasi-präsidentialen „Bismarckisierung“ der Politik.

„Merkel hat die Regeln der alten BRD kontrolliert gesprengt“, zitiert Meinel den Bremer Politikwissenschaftler Philip Manow. Schon das hätte ihm sagen müssen, wo der wahre Grund der Krise liegt – und daß diese Krise eher eine der Person ist als eine der Struktur.

Florian Meinel: Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus. Verlag C.H. Beck, München 2019, 238 Seiten, 16,95 Euro