© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/19 / 29. März 2019

Sehnsucht nach neuen Gesichtern
Ukraine: Der Jurist und Schauspieler Wladimir Selenski bringt Farbe in den Präsidentschaftswahlkampf
Paul Leonhard


Vielleicht wird die Ukraine demnächst von einem Komiker regiert. Zumindest sehen Umfragen den 41jährigen Wladimir Selenski an der Spitze der 39 Kandidaten für das Präsidentenamt. Zuvor waren alle Analysten von einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und Amtsinhaber Petro Poroschenko ausgegangen.

Jüngste Umfragen ergeben für den politisch noch unerfahrenen Fernsehstar 19 bis 23 Prozent der Wählerstimmen, für Timoschenko, die bereits 2010 und 2014 kandidiert hatte, 16 bis 19 Prozent, und für Poroschenko 15 bis 16 Prozent.

Letzterer punktet mit dem EU-Assoziierungsabkommen, der Abschaffung der Visapflicht und der Stärkung der Streitkräfte sowie der Gründung einer vom Moskauer Patriarchat unabhängigen orthodoxen Kirche.

Andererseits hat der 53jährige die Kirche des Landes gespalten, mit seinem prowestlichen Kurs die russischsprachige Bevölkerung weiter entfremdet und es nicht vermocht, den Krieg im Donbass zu beenden. Noch schwerer wiegt, daß es ihm nicht gelungen ist, seine Wahlkampfversprechen einzulösen: die Lebensverhältnisse zu verbessern und die Korruption einzudämmen.

So versucht der von EU und USA Hofierte, kurz vor den Wahlen die Bilanz seiner Amtszeit aufzubessern, indem er noch im Februar das Ziel eines EU- und Nato-Beitritts in die Verfassung aufnehmen ließ.

Aber auch die Warnung „2019 siegt entweder Poroschenko oder Putin“ zieht bei den Ukrainern bisher kaum. Laut Umfragen sind mehr als 70 Prozent der Meinung, das Land bewege sich in die falsche Richtung. Sein Wahlkampfslogan lautet „Armee, Sprache, Glaube“.
Timoschenko dagegen laviert zwischen prowestlich und prorussisch. Die  einst vom Westen gefeierte Ikone einer demokratischen Ukraine war 2011 wegen Amtsmißbrauch im Zusammenhang mit einem Gasgeschäft mit Rußland zu sieben Jahren Haft verurteilt worden, 2014 aber wieder freigekommen.

Auch Julia Timoschenko will Erneuerin sein

Sie verspricht der Ukraine „Größe“ und den Bürgern „Glücksgefühl und Würde“. Sie will die Gaspreise halbieren und dem Land mittels Referendum noch vor den Parlamentswahlen im Herbst eine neue Verfassung nach deutschem Vorbild geben. Obgleich sie sich – Trachtenkostüm und dicker blonder, zum Haarnest geflochtener Zopf sind passé – als Modernisierin gibt, gilt sie vielen als Teil des Systems.

Zu dem von ihr versprochenen „neuen Kurs“ gehören ein Wirtschaftsentwicklungsplan und eine Friedenslösung für den Donbass. Allerdings sieht ihre Strategie vor, die „besetzten Gebiete Donbass und Krim zurückzuholen“.

Ein hartnäckiges Gerücht besage, so der ukrainische Journalist Mykolo Worobiow, daß sich Timoschenko vor niemandem fürchtet, außer eben vor Selenski, der ihr als sehr bekannter Protestkandidat „tatsächlich den Schneid abkaufen könnte“.

Der russischsprachige Jurist und Schauspieler aus Kryvyj Rig, der erst seit 2017 ukrainisch lernt, punktet indem er die, aus Sicht des Kiewer Politologen Oleksi Haran, bei vielen Ukrainern vorhandene Sehnsucht nach „neuen Gesichtern“, „nicht-politischen“ und skandalfreien Kandidaten erfüllt. Selenski hat sein Wahlkampfteam ausschließlich aus Personen aufgebaut, die noch nie politisch tätig waren.

Im Wahlprogramm verspricht er Kampf gegen Korruption und mehr direkte Demokratie. Im Donbass-Konflikt tritt er für Verhandlungen ein. Im Interesse der Ukraine würde er sich „sogar mit dem Teufel zusammensetzen“, sagt der Herausforderer des Establishments.
Vom US-finanzierten Sender Radio Liberty vorgebrachte Vorwürfe, daß er als Besitzer einer Rechtevermarktungfirma Tantiemen aus Rußland beziehe, konnten Selenskis Popularität bisher ebensowenig schaden wie der Verdacht, er sei nur ein Strohmann des mit Poroschenko verfeindeten Obligarchen und Besitzers des Fernsehsenders 1+1, Igor Kolomojski.
Vor allem aber wurde der Komiker, der durch TV-Shows und Fernsehserien in der Ukraine und Rußland bekannt ist, schon einmal als ukrainischer Präsident gewählt: In der Satireserie, die den gleichen Namen wie seine Partei hat – „Diener des Volkes“ –, spielt er einen Geschichtslehrer, der gegen die Korruption schimpft. Ein heimlicher Mitschnitt davon wird zum Hit auf Youtube. Der Lehrer tritt bei den Präsidentschaftswahlen an, gewinnt und wird ein Präsident, der mit seiner Familie in der Vorstadt lebt, mit dem Rad zum Amtssitz fährt und keine Schmiergelder annimmt.