© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/19 / 29. März 2019

Bringen Schadenersatzforderungen Bayer und Boeing in Gefahr?
Echte Milliardenprobleme
Thomas Kirchner

Schon wieder hat Bayer eine Musterklage wegen der durch die Fusion mit Monsanto erworbenen Glyphosat-Altlasten verloren. 11.000 Kläger, Tausende weiterer Fälle stehen in den Startlöchern. Europäische Firmen haben Probleme, das amerikanische Schadensersatzrecht zu verstehen und sehen sich oft als leichte Beute gieriger Anwälte. Doch auch Boeing hat mit den beiden Abstürzen der funkelnagelneuen 737-Max-Baureihe ein Milliardenproblem am Hals. Es trifft also nicht nur Ausländer.

Das US-Schadensersatzrecht geht auf Theorien des Juraprofessors Fleming James der Yale-Universität zurück. Danach sollte Schadensersatz nicht mehr nur individuellen Schaden ersetzen, sondern weiter gefaßte Ziele erreichen, wie die Vergesellschaftung der Kosten von Produktrisiken. Wenn hohe Schadensersatzforderungen die Versicherungsprämien erhöhen, werden sie letztlich von allen Konsumenten eines Produkts getragen. Seit 1963 wird dieses Konzept von Gerichten in der juristischen Praxis umgesetzt, ursprünglich in Kalifornien, inzwischen landesweit.

Gerade bei körperlichen Verletzungen fällt Ersatz individueller Schäden in den USA oft besonders hoch aus. Grund dafür ist das Fehlen eines soziales Sicherungsnetzes, das in Europa wenigstens teilweise die Folgekosten übernimmt. Deshalb kommen beispielsweise bei medizinischen Fehlern, die lebenslange Pflege rund um die Uhr notwendig machen, leicht Beträge von vielen Millionen zusammen. Hingegen werden abenteuerliche Summen wegen harmloser Banalitäten, die es in die Schlagzeilen schaffen, meist in der Revision zurechtgestutzt, was dann natürlich keine Meldung mehr wert ist.

Viele Industrien mußten die Folgen des strengen Schadensersatzrechts schon ausbaden: Die Tabakindustrie einigte sich 1998 auf einen Vergleich von 206 Milliarden Dollar, zahlbar über 25 Jahre. Asbesthersteller haben bisher über 70 Milliarden Dollar an mehr als 730.000 Geschädigte gezahlt. 8.400 Unternehmen wurden verklagt, wovon 73 Konkurs anmelden mußten. Geschädigte mit Krebsleiden erhielten je zwischen einer und 1,4 Millionen Dollar. Flugzeugabstürze regelt seit 1999 das Montrealer Übereinkommen. Bei US-Zivilprozessen kommen statt 157.650 Dollar Entschädigungen von fünf bis zehn Millionen pro Todesfall zustande.

Nimmt man Asbest als Ausgangspunkt könnte Bayer bei 11.000 Klagen zehn bis 15 Milliarden Dollar zahlen – den doppelten Jahresgewinn von 2017. Die Zivilklagen gegen Boeing dürften weit unter einer Milliarde liegen. Der Schaden kommt von Stornierungen bestellter Maschinen: Das Auftragsbuch der 737-Max ist 600 Milliarden Dollar schwer. Bleibt der Dreamliner 787 trotz Rauch im Cockpit weiter im Flugbetrieb, könnte Boeing mit einem blauen Auge davonkommen. Bayer hingegen könnte – wenn noch neue Klagen dazukommen – in ein Konkursverfahren rutschen.