© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/19 / 29. März 2019

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

VDer im Lärm der Zeit am schmerzlichsten vermißte Zustand sind Momente der Stille.

„Ich bin weder mit der Vergangenheit noch mit der Zukunft verbunden – mein Leben zieht seine Kraft nur aus dem je gegenwärtigen Moment.“ Das schreibt der 26jährige Japaner Naoki Higa-
shida, ein nonverbaler Autist, in seinem soeben auf deutsch erschienenen Buch „Sieben Mal hinfallen, acht Mal aufstehen“ (Rowohlt). Darauf aufmerksam gemacht hat mich eine langjährige Freundin, die weiß, daß ich seit den Tagen des großartigen Filmdramas „Rain Man“ (1988) mit Dustin Hoffman und Tom Cruise an dem Thema Autismus und Inselbegabungen interessiert bin. Bei Naoki Higa-shida wurde im Alter von fünf Jahren eine besonders schwere Form von Autismus diagnostiziert. Sprechen kann er kaum, um sich auszudrücken benutzt er hauptsächlich eine Alphabettafel, zuweilen auch einen Computer. Als 13jähriger schrieb er dann das Buch „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“, in dem er versucht zu erklären, was in ihm vorgeht (auf deutsch 2014 bei Rowohlt). Daran knüpft nun das neue Werk, thematisch weiter gefaßt, nahtlos an. Ein berührendes Beispiel: In einer der ersten Geschichten erzählt Naoki Higashida von einem plötzlichen Regenschauer, der seine Mutter veranlaßt, rasch die Wäsche vom Balkon hereinzuholen, während er noch damit beschäftigt ist, sich zu fragen, wie sie überhaupt so schnell allein am Geräusch begreifen konnte, daß es regnet. Für Naoki bleibt das ein Rätsel. „Für mich ist das Regengeräusch ein Abstraktum. Relativ leicht fällt es mir, die Stimmen meiner Familie, das Klingeln eines Telefons, das Bellen eines Hunds oder das Miauen einer Katze zu identifizieren“, schreibt er. „Aber bei manchen Geräuschen brauche ich ewig, bis ich sie zugeordnet habe …“ An anderer Stelle schreibt er über Falten auf seiner Stirn, derentwegen er sich im Spiegel nicht mehr erkennt: „Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob man etwas nur sieht oder auch weiß, was es ist.“ Es sind solche Einblicke in das Innenleben eines Autisten, die Naoki Higashidas Buch für uns „neurotypische“ Menschen so lehrreich und wertvoll macht.

Viele Leute verwechseln ihr endloses Geplapper mit einer Unterhaltung.

Johann Wolfgang von Goethe, Tagebücher. 13. Mai 1780: „Das Beste ist die tiefe Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachse und gewinne, was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen können.“