© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/19 / 29. März 2019

Alleine gegen das System
Ukraine: Der Blogger Anatolij Scharij verkörpert die Revolution der osteuropäischen Medienwelt
Markus Schleusener


Die postsowjetische Medienlandschaft in Osteuropa ist meist übersichtlich: Große Sender sind oft regierungsnah oder werden von Oligarchen kontrolliert. Kritische Zeitungen werden als Feigenblatt der Machthaber angesehen. Dafür gelten im Netz andere Regeln. Blogger genießen Freiheiten und haben teilweise erstaunlich große Anhängerschaften. Einer der bekanntesten ist Anatolij Sharij aus Kiew. Seine Geschichte lautet: die heutige Ukraine ist diktatorisch, undemokratisch, korrupt und arm. Wer könnte dies besser behaupten als ein ukrainischer Blogger, der ins Exil gezwungen wurde?

Nach eigenen Angaben ist Scharij der erste anerkannte politisch verfolgte Journalist aus der Ukraine in der ganzen EU. Er sei gezwungen, seinen Wohnort geheimzuhalten, denn die ukrainischen Geheimdienste sind möglicherweise hinter ihm her. Immer wieder schaffen sie es, Scharijs Facebook-Seite zu blockieren. Oder sie versuchen über die IP-Adresse seines Computers Privatdaten ausfindig zu machen. „Nein, ich habe vor euch keine Angst!“, schreibt er auf seiner Internetseite sharij.net.

Kritiker bezeichnen ihn als russischen Agenten

Alles hat mit seiner Arbeit als Journalist in der Ukraine angefangen. Er hatte verschiedene Skandale aufgeklärt: neben illegalen Spielautomatengeschäften, Tierquälerei und Drogenhandel ging es zuletzt um ein Kurhaus für Familien mit Kindern. Dort wurde mutmaßlich Sex mit Minderjährigen angeboten. Scharij hat berichtet, daß Behördenmitarbeiter dort als Kunden gesichtet worden seien. Es folgten Drohungen, Provokation und schließlich ein Überfall auf den Reporter. Er wurde auf einer Tankstelle in seinem Auto beschossen.
Scharij fühlte sich nicht mehr sicher und floh ins Ausland. In der Ukraine wurde er jener Vergehen beschuldigt, zu denen er recherchiert hatte: Drogenhandel und Pädophilie. Freunde wandten sich ab. Er war ruiniert und mußte Frau und Tochter zurücklassen.

Er fand Aufnahme in verschiedenen westlichen Ländern. Eine Zeitlang lebte er in Litauen, später veröffentlichte das ukrainische Fernsehen seine angebliche Wohnadresse in Gdingen. Wo er sich derzeit aufhält, ist nicht bekannt. Scharij ließ sich anwaltlich in der Ukraine vertreten und hat nach eigenen Angaben alle Prozesse in der Heimat gewonnen.
Er begann mit dem Aufbau einer Webseite und fing an zu bloggen. Tag und Nacht verfolgt er auf beinahe allen ukrainischen Medien die Arbeit von Beamten und Politikern – allen voran von Präsident Poroschenko.

Er ist schnell. Unmittelbar nach spektakulären Ereignissen – sei es Poroschenkos Rede im Parlament, eine Dienstreise oder ein öffentlicher Auftritt – lädt Scharij bereits einen Youtube-Kommentar hoch, oft zehn bis zwanzig Minuten lang, bestückt mit Fotos oder anderen Beweismaterialen. In Scharijs Visier geraten nicht nur persönliche Gegenspieler und Sicherheitsbehörden, sondern alle seiner Ansicht nach falschen Patrioten und Pseudodemokraten. So wurde aufgrund von Scharijs Recherchen der ukrainische Konsul in Hamburg Wassil Maruschinetz vom Dienst suspendiert, nachdem er antisemitische Äußerungen verbreitet hatte.
Nicht verschont bleiben auch die „Grantoesser“. So werden in der Ukraine diejenigen bezeichnet, die mit den Geldern von westlichen Staaten gegen das eigene Land arbeiten. Ihnen gegenüber ist Scharij sehr kritisch, besonders wenn es um ihre Rolle bei der Majdan-Revolution geht. Er sucht nach Schuldigen für die über 100 Toten. Das macht ihn zum Staatsfeind in der Ukraine. Scharij wird beschuldigt, russischer Agent zu sein. Er verspricht jedem, der dafür Beweise hat, eine finanzielle Belohnung. Bislang mußte er noch nie etwas bezahlen.

Am 31. März wählen die Ukrainer einen neuen Präsidenten. Scharij ist einer der größten Poroschenko-Kritiker. Er zeigt den Ukrainern, was passiert, wenn Bürger von ihrem Recht Gebrauch machen, dem Präsidenten eine Frage zu stellen. Zum Beispiel: „Herr Poroschenko, warum verfolgen Sie Anatolij Scharij?“ Scharij bezahlt für jede direkt an Poroschenko gestellte Frage immense 15.000 Griwna (etwa 500 Euro), wenn der Fragesteller einen Beweisfilm liefert. Diese Frage paßt Poroschenko nicht, denn er will als demokratisch, weltoffen, europäisch gelten, und nicht als jemand, der die Presse- und Meinungsfreiheit einschränkt. Videoclips zeigen Poroschenko, wie er jemandem das Mobiltelefon aus der Hand schlägt oder ins Gesicht kneift. Er gab seinen Wachdiensten Befehl, diese „russischen Agenten“ aus der Menge sofort abzuführen. Aus Protest, aus Solidarität oder wegen des schnelles Geldes: Immer mehr Ukrainer konfrontieren Poroschenko mit der Frage – und ihre Verfolgung wird immer härter.

Ukrainische Medien, die entweder in der Hand der Regierung oder unter Kontrolle von Oligarchen sind, vermeiden Berichte über Scharijs Kampf. Er wird weitgehend ignoriert. Der Blogger lacht nur, denn er weiß: Seine mittlerweile 1,9 Millionen Abonnenten erreicht er sowieso.