© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/19 / 29. März 2019

Hochgradig sektiererisch
Völkisch-antisemitischer Orden: Die Thule-Gesellschaft als okkulte Keimzelle einer politischen Bewegung
Karlheinz Weißmann

Als am 9. November 1918 in Berlin die Republik ausgerufen wurde, lief in München ein Flugblatt um, dessen Schlüsselsatz lautete: „An Stelle unserer blutsverwandten Fürsten herrscht heute unser Todfeind Juda.“ Und nachdem die radikale Linke in der bayerischen Hauptstadt die Räterepublik proklamiert hatte, stand auf einem Flugblatt zu lesen: „Bolschewismus ist Judensache. Bolschewismus ohne Juden gibt es nicht.“
Die politische Atmosphäre war in München zwischen dem Herbst 1918 und dem Frühjahr 1919 aufs äußerste gespannt. Hier wurde zuerst die Monarchie gestürzt, aber hier entstanden auch zuerst starke gegenrevolutionäre Strömungen. Die konnten einen restaurativen Charakter haben, doch ihre eigentliche Dynamik speiste sich aus dem Antisemitismus, der den Umsturz als jüdische „Mache“ und alle sozialistischen oder kommunistischen Projekte als Ergebnisse jüdischer Drahtzieherei betrachtete.
Einen Anhalt fand diese Deutung an der starken Präsenz von Juden in den Bewegungen der extremen Linken. Ein Sachverhalt, der in Kreisen des traditionellen wie des assimilierten Judentums zu erheblicher Besorgnis führte und einen Mann wie den jüdischen Fabrikanten Siegmund Fraenkel dahin brachte, sich schon im April 1919 mit einem offenen Brief an Erich Mühsam, Ernst Toller und Gustav Landauer zu wenden und sie davor zu warnen, daß ihre „Irrlehren“ den „bayerischen Volkscharakter“ in fataler Weise verkennten. Der werde zuletzt alles entschlossen abwehren, was ihm fremd erscheine, weshalb es nun darum gehe, die eigene „Glaubensgemeinschaft vor dem Odium [zu] schützen, daß das überlieferte Judentum irgendetwas mit den destruktiven Tendenzen ehrgeiziger Revolutionspolitiker gemeinsam habe“.
Fraenkel wies auch auf die Massen antisemitischer Propaganda hin, die in Umlauf kamen. Als deren Urheber waren unschwer völkische Organisationen auszumachen. Während die Revolution die wilhelminische Rechte, die Konservativen und die Nationalliberalen, paralysiert hatte, blieb die völkische Fraktion aufgrund elastischerer Strukturen handlungsfähig. Deshalb konnten die Alldeutschen oder der Reichshammerbund ihre Arbeit fast ungestört fortsetzen und gleichzeitig eine neue militante Organisation – den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund (DVSTB) – aufbauen. Der DVSTB soll im Jahr 1919 mehr als 100.000 Mitglieder umfaßt haben. Sein Einfluß ging aber vor allem auf eine Agitation zurück, die er durch öffentliche Versammlungen, Broschüren, Plakate, Zeitungen und Zeitschriften entfaltete. Verglichen damit hatten andere Gruppen ähnlicher Tendenz nur marginale Bedeutung. Das betraf auch die in München ansässige Thule-Gesellschaft.
Aktiver Widerstand gegen bayerische Räteregierung
Die Schlüsselfigur der Thule war Rudolf von Sebottendorff, geboren 1875 unter dem Namen Adam Alfred Rudolph Glauer als Sohn eines Lokomotivführers in Hoyerswerda. Er hatte in jungen Jahren ein abenteuerliches Leben geführt und hielt sich für längere Zeit im Orient auf. Wahrscheinlich kam er dort mit der Freimaurerei und dem Okkultismus in Berührung. Vor dem Ersten Weltkrieg kehrte er kurz nach Deutschland zurück, sah sich nach einer Anzeige wegen Urkundenfälschung polizeilich gesucht, ging erneut nach Istanbul und nahm angeblich 1910 die türkische Staatsbürgerschaft unter dem Namen „Baron Heinrich von Sebottendorff“ an.
Es ist bis heute nicht zu klären, ob seine Behauptung, ein im Nahen Osten lebender Baron von Sebottendorff habe ihn adoptiert, den Tatsachen entsprach oder ob es sich um Hochstapelei handelte. Jedenfalls erschien Sebottendorff 1913 wieder in Deutschland und heiratete zwei Jahre später, was ihm erhebliche Geldmittel verschaffte. Während des Krieges, im September 1916, nahm er auch Kontakt zu verschiedenen völkischen Gruppen auf und trat dem „Germanenorden“ bei. Dabei handelte es sich um eine „ariosophische“ Loge, die ein an die Freimaurerei angelehntes Zeremoniell verwendete, aber vor allem einen extrem antisemitisch orientierten Okkultismus pflegte. Der Germanenorden spaltete sich nach kurzer Zeit, was es Sebottendorff ermöglichte, in dem neugegründeten „Germanenorden — Walvater vom Heiligen Gral“ Einfluß zu gewinnen, der etwa zweihundert Personen umfaßt haben soll. Nur hinderte ihn an der Entfaltung weiterer Tätigkeit eine Verhaftung im Frühjahr 1917. Grund waren die früher gegen ihn erhobenen Anschuldigungen. Er wurde – möglicherweise zum Zweck von Vermögensmanipulationen – kurz darauf entmündigt.
Erst Anfang 1918 betrat Sebottendorff erneut die Bühne. Am 1. Januar des Jahres war in München die erwähnte Thule-Gesellschaft gegründet worden. Ihr ursprünglicher Zweck sollte darin bestehen, Vorträge und Veranstaltungen zur germanischen Frühzeit zu organisieren. Aber unter dem Einfluß Sebottendorffs und infolge der sich überstürzenden Ereignisse nahm sie immer stärker Züge einer politischen Untergrundorganisation an. Die Versuche, aus der Thule heraus praktische Arbeit zu leisten, fanden ihren Niederschlag vor allem in der Bildung des „Kampfbundes der Thule“, der schon am 10. November, also unmittelbar nach der Revolution, begann, Einwohnerwehren zu infiltrieren. Er wirkte auch am Aufbau des Freikorps „Oberland“ mit und unterstützte einen ersten Putschversuch gegen die Republik. Nach Errichtung der Räteherrschaft ließ Sebottendorff aktive Subversion betreiben und Männer für die Regierungstruppen werben, die sich in Bamberg sammelten. Die Räteregierung betrachtete die Umtriebe der Thule als so gefährlich, daß sie am 26. April deren Sitz im Hotel „Vier Jahreszeiten“ stürmen und etwa zwanzig Mitglieder verhaften ließ. Von denen wurden sieben in das städtische Luitpold-Gymnasium verbracht und vier – darunter eine Frau – kurze Zeit später liquidiert.
Dieser „Geiselmord“ löste in der Münchner Bevölkerung große Empörung aus, die sich nach dem Beginn des Vormarschs von Freiwilligenverbänden und provisorischer Reichswehr auf die Stadt offen gegen das Räteregime stellte. Das brach kurz darauf zusammen. Ein Vorgang, der allerdings auch das Ende der Wirksamkeit der Thule-Gesellschaft bedeutete. Im Juli 1919 verließ Sebottendorff aus ungeklärten Motiven Deutschland, seine Organisation dämmerte noch einige Jahre vor sich hin. Allerdings hinterließ sie eine politische Erbschaft, die bedeutsamer sein sollte, als sie selbst je gewesen war.
Schon im Oktober 1918 hatte Sebottendorff im Rahmen der Thule einen „Arbeiterzirkel“ gründen lassen, der seit dem Dezember regelmäßig zusammentrat, niemals mehr als sieben Teilnehmer bei seinen Gesprächsrunden zählte, aber trotzdem am 5. Januar 1919 in die Deutsche Arbeiter-Partei (DAP) überführt wurde. Von der ahnte da noch niemand, daß sie eine der wirkmächtigsten Weltanschauungsformeln der Zwischenkriegszeit in Umlauf bringen könnte: die des „nationalen Sozialismus“. Und es ahnte auch noch niemand, daß Adolf Hitler, jener „unbekannte Gefreite des Weltkriegs“, der im Sommer 1919 an einem der Vortragsabende teilnahm und der Gruppierung kaum mehr als die Bedeutung eines Kaninchenzüchtervereins zusprach, aus ihr ein Instrument formen würde, das ihm die Machtübernahme in Deutschland erlaubte.
Anspruch auf Urheberschaft der NS-Bewegung
Als 1933 die längst in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei umbenannte DAP die Regierung übernahm, tauchte Sebottendorff noch einmal auf und nahm prompt die Urheberschaft der Bewegung in Anspruch. Tatsächlich konnte er darauf hinweisen, daß einige führende Nationalsozialisten – Alfred Rosenberg, Rudolf Heß, Hans Frank – zur Thule oder ihrem Umfeld gehört hatten. Hitler allerdings nicht, der immer Abstand zu Esoterik und Geheimbündelei hielt und auf Konjunkturritter wie Sebottendorff unduldsam reagierte. Sebottendorff mußte das Land erneut verlassen. Sein Ende war so mysteriös wie sein ganzes Leben. Am 9. Mai 1945, einen Tag nach der deutschen Kapitulation, soll man seinen Leichnam im Bosporus gefunden haben. Aber auch das ist nicht gesichert, was den Boden bereitete für eine nicht enden wollende Menge an Spekulationen über jenes Grüppchen, das sich den mythischen Namen Thule gegeben hatte, den der „Urheimat der nordischen Rasse“.