© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/19 / 29. März 2019

Die Heimat pflegen, um sie mit Fremden zu teilen
Mit nordkoreanischer Geschlossenheit: Deutsche Politologen zum „Konstrukt“ der nationalen Identität
Oliver Busch

Die Redaktion von Politikum bewirbt ihre gleichnamige Quartalszeitschrift mit der Empfehlung, Streitthemen würden auf ihren Seiten so „kontrovers“ widergespiegelt wie sie in Wirklichkeit seien. Dank dieser Darstellung „unterschiedlicher Standpunkte zu den zentralen politischen und gesellschaftlichen Kontroversen“ könne ihr Organ mit „fundierten und prägnanten Analysen“ zur „fundierten politischen Urteilsbildung“ beitragen.
Schon die stilistische Hilflosigkeit verrät, daß derart geweckte hohe Erwartungen unerfüllt bleiben werden. Nicht notwendig mit jeder Ausgabe, wie zuletzt das informative Themenheft über Utopien und Dystopien bewies (JF 48/18). Aber da ging es auch nicht kontrovers zu, sondern betulich ideengeschichtlich. Beim aktuellen Heft hingegen, das über die tatsächlich „zentrale gesellschaftliche Kontroverse“ der „Identitätspolitik“ handelt (4/2018), riskiert die Redaktion lieber nichts. Beiträger ohne linksgrünschwarzen Stallgeruch müssen daher draußen bleiben. Wer sich zu Wort melden darf, spult die nordkoreanisch anmutende Einheitsmeinung in Sachen Identität, Migration, Gender, Diversität ab, auf die unter deutschen Politologen der jüngste Doktorand wie der älteste 68er-Emeritus eingeschworen ist.
Unumstößliches Axiom ist für alle: null Toleranz für nationale Identität. Jochen Roose (FU Berlin), als Parteienforscher bei der Konrad-Adenauer-Stiftung im Sold, setzt sich daher selbstverständlich nur für eine „starke europäische Identität“ ein. Aber, wie es sich für einen CDU-nahen Politologen geziemt, „nüchtern, reflektiert, skeptisch“. Also sollte keinesfalls ein europäisches Selbstbewußtsein erblühen, das nicht „gebrochen“ ist. Andernfalls artete eine „Identitätspolitik europäischer Zurückhaltung“ wieder in eine internationalistische Variante des Nationalismus mit seinen „brutalsten Weltkriegen der Geschichte“ aus. Was rechtzeitig „die Alarmglocken schrillen lassen“ sollte. Um sich brav zur Gebrochenheit zu erziehen, rät Roose etwa zum Besuch der Alten Nationalgalerie in Berlin. Die Sammlungen betrachtend, lerne der Besucher, daß in der Antike „die Mittelmeer-Anrainerländer“ in Südeu-ropa, Nordafrika, im Nahen Osten und der späteren Türkei „zusammen Europa waren“. Womit der Rahmen für eine moderne eurasisch-euroafrikanische Identität abgesteckt wäre.  
Der Politologe Jens Hacke (Greifswald) schlägt den Bogen nicht so weit, wenn er sich dem neuerdings modischen Heimatbegriff zuwendet. Großzügig konzediert er, daß ein demokratischer Nationalstaat ohne Heimat schwerlich auskomme. Es entspreche daher demokratischer Erfahrung, daß „gefühlsmäßige Bindungen gemeinschaftsfördernd“ wirken. Nur wenn sich Bürger emotional ihrem Staat zugehörig fühlten, würden sie sich demokratisch engagieren. Stärker als der Einsatz für abstrakte Gerechtigkeit wirke von jeher nun einmal der Antrieb zu konkreter, durch historisches Wissen motivierter Gestaltung des eigenen Erfahrungs- und Erlebnisraums. Eine „derartige Pflege des Gemeinsamen“ dürfe sich jedoch „nicht nach außen abschließen“. Vielmehr müsse sie sich an „erfolgreichen Einwanderungsgesellschaften“ orientieren und unentwegt „Inklusionsangebote“ unterbreiten. Also Heimat pflegen, um sie mit Fremden zu teilen oder ihnen gleich ganz preiszugeben.
Alles Konstrukte außer das „autonome Individuum“
Als Organisator eines aus Bundesmitteln geförderten Projekts „Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland“ agitiert der linksgrüne Tübinger Politologe Nikolai Huke für diese Berliner Politik der Masseneinwanderung. Wobei „konservativ und neonazistisch“ für ihn synonym ist und er jede Kritik an der seit 1968 erreichten „neuen Normalität von Diversität“, wie sie in „identitätspolitischen Subkulturen“ herrsche,  als „rassistisch, maskulinistisch, geschichtsrevisionistisch, homophob“ abbügelt. Ein „Volksempfinden“ ist bei ihm so „vermeintlich“ wie ein demokratischer „Volkswille“. Ausländerkriminalität erklärt Huke mit „diffusen Vorurteilen“ sowie mit der der Allzweckwaffe des linken Irrationalismus: der „Konstruktion“, in diesem Fall „vermeintlich krimineller Gruppen“. Den von „populistischen Aufklärungs- und Demokratiefeinden“ getragenen, deutsche Identität verteidigenden „konservativen Rollback“ will der wissenschaftlicher Mitarbeiter Huke auf jeden Fall Paroli bieten.
Auch die frühere KPÖ-Aktivistin Judith Goetz, derzeit an der Wiener Universität in dem leicht mit Indoktrination verwechselbaren Bereich „Didaktik der politischen Bildung“ tätig, hantiert in ihrem Beitrag über die „Identitäre Bewegung“ (IB) hektisch mit „Konstruktionen“. Sogar mit einem pleonastischen „Gedankenkonstrukt“. Nichts anderes seien nämlich Volk, Kultur, kulturelle Differenz und der zentrale IB-Begriff „ethnokulturelle Identität“. Dem hält Goetz ganz unbedarft das neoliberale Konstrukt aller Konstrukte, das atomisierte und entortete „autonome Individuum“, den omnipotenten weltweiten Marktteilnehmer entgegen, der seine „eigene Identität nach den jeweiligen individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten selbst begründet“, um seine „Selbstverwirklichung eigenständig zu bewältigen“. Notfalls auch im Schlaf, unter den Brücken – völlig egal, ob in Lagos, Los Angeles oder Leverkusen.



Historisches Kalenderblatt

3. April 1989: Durch mündlichen Befehl des DDR-Verteidigungsministers Fritz Streletz wird die „Anweisung zum Einsatz von Schußwaffen zur Verhinderung von Flucht und illegalen Grenzübertritten“ (im Westen als „Schießbefehl“ bezeichnet) aufgehoben.