© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/19 / 05. April 2019

Wann sind sie am Zug?
Islamischer Terrorismus: Kritische Infrastruktur im Visier / Festnahme eines Tatverdächtigen offenbart Bedrohung
Peter Möller

Ein Bild der Verwüstung: Eisenbahnwaggons aufgerissen, zerfetzt und zu einer bizarren Skulptur zusammengeschoben, in der 101 Menschen den Tod fanden. Das ICE-Unglück von Eschede im Juni 1998 hat auf grauenhafte Art vor Augen geführt, welche Zerstörungskraft ein entgleisender Hochgeschwindigkeitszug freisetzen kann. Die Bilder des schwersten Zugunglücks in Deutschland der jüngeren Vergangenheit drängten sich auf, als Ende vergangenen Jahres bekannt wurde, daß Unbekannte zweimal vergeblich versucht hatten, einen ICE in voller Fahrt zum Entgleisen zu bringen. Sofort kam der Verdacht auf, daß es sich hierbei um terroristische Anschläge gehandelt haben könnte.

In der vergangenen Woche schlugen die Ermittler zu: In Wien verhaftete die österreichische Polizei einen 42 Jahre alten Iraker unter dringendem Tatverdacht. Dem Mann wird vorgeworfen, am 7. Oktober auf der ICE-Strecke Nürnberg-München und im Dezember in Berlin-Karlshorst Anschläge auf den Bahnverkehr verübt und dabei unter anderem Drohschreiben und eine IS-Flagge hinterlassen zu haben. Die Ermittler werfen dem Mann vor, er habe versucht, die Züge zum Entgleisen zu bringen, indem er jeweils ein Stahlseil zwischen den Oberleitungsmasten befestigte und mit Metallteilen verstärkte Holzkeile auf den Gleisen aufgebrachte. Im Oktober wurde dabei ein ICE leicht beschädigt, im Dezember in Berlin die Oberleitung in Mitleidenschaft gezogen. Verletzte gab es in beiden Fällen keine.

So viele „Ungläubige“ wie möglich töten 

Dennoch geben die Sicherheitsbehörden keine Entwarnung. Im Gegenteil: Die fehlgeschlagenen Anschläge auf die Hochgeschwindigkeits-

trassen haben bei Sicherheitsexperten die Alarmglocken schrillen lassen. Sie fürchten schon seit längerem, daß die für eine komplexe Industriegesellschaft lebensnotwendige sogenannte kritische Infrastruktur, zu der auch Eisenbahnstrecken zählen, verstärkt in den Fokus von Terroristen gerät. Denn mit einem erfolgreichen Anschlag auf ein solches sogenanntes weiches Ziel kann mit relativ geringem Aufwand im „Erfolgsfall“ eine große Wirkung erzielt werden.

Als Kritische Infrastrukturen (Kritis) gelten nach amtlicher Definition „Organisationen oder Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden“. Hierzu zählen unter anderem Betriebe und Einrichtungen der Energie- und Wasserversorgung, des Transport- und Verkehrswesens oder der Gesundheitsversorgung. „Cyberattacken gerade auf Unternehmen der kritischen Infrastruktur haben, wären sie denn erfolgreich, das Potential, das gesellschaftliche Leben massiv zu beeinträchtigen. Daher ist es geradezu lebensnotwendig, daß wir uns alle auf solche Szenarien einstellen und deren Abwehr gemeinsam üben“, sagte der Präsident des Landeskriminalamts Baden-Württemberg, Ralf Michelfelder, der Pforzheimer Zeitung.

Um diesen sensiblen Einrichtungen Schaden zuzufügen, sind heutzutage nicht unbedingt Stahlseile oder gar Sprengsätze notwendig. Die Gefahr lauert im Internet: Die Betreiber von Wasser-, Gas- und Stromnetzen haben in den vergangenen Monaten laut Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) verstärkt IT-Sicherheitsvorfälle gemeldet. Allein in der zweiten Jahreshälfte habe das Bundesamt von 157 Hacker-Angriffen auf Versorger kritischer Infrastruktur erfahren, im gesamten Jahr 2017 seien es 145 Angriffe gewesen. Dazu komme eine hohe Dunkelziffer. Viele Versorger sollen die Cyberattacken geheimhalten, weil sie Imageschäden befürchteten.

Als wäre diese Entwicklung nicht besorgniserregend genug, treibt die wachsende Zahl von Personen, die von den Sicherheitsbehörden als Gefährder eingestuft werden, den Verantwortlichen zusätzliche Sorgenfalten auf die Stirn. Als Gefährder gilt jemand, wenn ihm von den Behörden zugetraut wird, politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung zu begehen, also beispielsweise einen Anschlag zu verüben. Nach Angaben des Bundeskriminalamts gab es zum Stichtag 21. März deutschlandweit 775 Personen, die als Gefährder geführt werden. Dabei handelt es sich um zwei Gefährder aus dem Bereich politisch motivierte Kriminalität links, 34 Gefährder aus dem Bereich politisch motivierte Kriminalität rechts und 739 islamistische Gefährder.

Vor allem die Zahl der islamistischen Gefährder ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsen. Und jüngste Meldungen über Polizeiaktionen gegen mutmaßliche islamistische Terroristen tragen nicht zur Beruhigung bei. So nahm die Polizei in Nordrhein-Westfalen am Freitag vergangener Woche elf Männer, überwiegend Tadschiken im Alter von 22 bis 35 Jahren, unter Terrorverdacht fest. Spezialeinheiten und Hunderte Beamte durchsuchten mehrere Objekte nach Sprengstoffdepots. Die Polizei vermutete, daß die Männer Waffen und Sprengstoff für einen Anschlag horten. Zwar mußten mittlerweile alle Festgenommenen wieder freigelassen werden, weil sich der dringende Tatverdacht nicht erhärtet habe. Die Ermittlungen sind nach Behördenangaben aber noch nicht abgeschlossen.

Eine Woche zuvor waren bei einer Antiterrorrazzia in Hessen und Rheinland-Pfalz ebenfalls elf Verdächtige festgenommen worden. Die drei Hauptverdächtigen sollen sich verabredet haben, einen „islamistisch-terroristisch motivierten Anschlag“ zu verüben, um dabei so viele „Ungläubige“ wie möglich zu töten.