© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/19 / 05. April 2019

Alles ist verhandelbar
Nachbetrachtung zu 1968: Vom Aufstand gegen die Einehe zum paneuropäischen Swingerclub
Dirk Glaser

Der „Kulturbruch“ (Karlheinz Weißmann) der 68er-Bewegung hat in Kindergarten, Schule und Universität seine nachhaltigsten Erfolge gezeitigt. Darum mußte sich gerade die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft zum 50. Jubiläum aufgefordert fühlen, Bilanz zu ziehen. Sie tut es in einem ihrer Sprachrohre, dem Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, dessen jüngste Ausgabe dem Schwerpunkt „1968 Revisited“ gewidmet ist (Band 24/2018).

Die Aufsätze, die dazu ein gutes Dutzend „AutorInnen“ lieferten, sind jedoch weniger am Historischen, an der Aufhellung eines, wie es einleitend heißt, „der bedeutsamen Ereignisse in der Nachkriegsgeschichte“ interessiert als daran, das Thema als Sinnressource für die Gegenwart zu nutzen. Daher vermeiden die zumeist zur „Generation Golf“ (1968–1983) zählenden Beiträger jeden Ansatz zu kritischen Bewertungen wie sie im letzten runden Gedenkjahr 2008 etwa in den Rückblicken von Götz Aly, Gerd Koenen und Wolfgang Kraushaar zu hören waren. Zugleich scheint sich der 68er-Schlachtruf „Alles Private ist politisch“ ins Gegenteil einer retrospektiven Privatisierung des Politischen zu verkehren. Allerdings nur auf ersten, trügerischen Blick.

Obwohl den Professorinnen Meike Sophia Baader (Hildesheim) und Rita Casale (Wuppertal), die für die sich dem gegenwärtigen Zeitgeist unterwerfende krasse Reduktion dieser „Jugendrevolte“ auf „Generationen- und Geschlechterverhältnisse“ redaktionell verantwortlich zeichnen, zuzugeben ist, wie rasch damals schon der Wunsch nach einer „sexuellen“ den nach einer „sozialen  Revolution“ verdrängte und wie hastig sich die Protagonisten von Karl Marx „emanzipierten“. Die „Befreiung“, die stattdessen auf dem Stundenplan stand, sollte nicht mehr Marx, sondern Wilhelm Reich (1897–1957) inspirieren. Ein quacksalbernder, von Sigmund Freud exkommunizierter Psychoanalytiker, den die KPD verstieß, weil seine Sexualtheorie ihrem Verdikt der „Ablenkung von politischer Aktion“ verfiel. Im US-Exil kassierte der Scharlatan schließlich eine Gefängnisstrafe, weil seine „Orgon-Akkumulatoren“, mit denen er die „Orgasmusfähigkeit“ seiner wundergläubigen Klientel zu reanimieren versprach, deren hohe Erwartungen herb enttäuschten.

Die Interviews, die Karla Verlinden (Jahrgang 1980) vom „Institut für LehrerInnenbildung“ der Universität Köln mit elf 68ern, geboren zwischen 1946 und 1951, geführt hat, bestätigen, wie stark das Weltbild dieser Alterskohorte von Reichs wirren Ideen geprägt war und ist. Nicht mehr von der Sozialisierung der Produktionsmittel, der Aufhebung der Ausbeutungsverhältnisse erwartet man das Heil, sondern von der „Auflösung der bürgerlichen Monogamie“, die, so Reich, das Individuum ins „autoritäre Herrschaftsgefüge“ zwinge. „Raus aus den Zweierbeziehungen“, tönte daher der clowneske Kommunarde Dieter Kunzelmann ganz im Sinne Reichs, für den allein der „genital befriedigte Mensch“ sich dem repressiven Kapitalismus entziehen könne, auf daß sich alsbald eine „sexuell glückliche Bevölkerung“ im Paradies der Zukunftsgesellschaft tummele. 

In solchen Phantastereien scheint die schon von Heinrich Heine verspottete lebensfremde Weltverbesserer-Manie der auf Innerlichkeit getrimmten Deutschen nachzuklingen, die eher philosophische als politische Revolutionen ins Werk zu setzen vermögen. Entsprechend verkatert beklagen Verlindens Probanden das Zerschellen ihrer revolutionären Ideale an den harten Realitäten der Industriegesellschaft. Denn in den späten 1970ern sei die von ihnen unterminierte „Einehe als staatserhaltendes Zwangsgerüst“  leider wieder von einer „sexualunpolitischen Folgegeneration“ restauriert worden. 

Welch ein Irrtum, so belehrt Verlinden ihre Veteranen. Blühe doch heute ihr Weizen, wie sie es nie zu träumen wagten. Auch als „Ergebnis der Debatten der 68_innen“, die ursprünglich allzu bescheiden „sexuelle Selbstbestimmung“, ein bisserl Frauenemanzipation, zwecks totaler Mobilmachung des Arbeitskräftereservoirs, sowie „hedonistisch enthemmten Konsum“ (Frank Böckelmann) forderten, gebe es nun zum Glück überhaupt keinerlei „Konsensmoral“ mehr. Denn alles sei jetzt aufgelöst und „individuell verhandelbar“. „Bürgerliche Tugendhaftigkeit“ weiche der „Vielfalt an individualisierten Sexual- und Beziehungsmustern“, freut sich die Kölner Pädagogin. Bis hin zur Polyamory-Bewegung und deren Unterabteilung, der „Swingerclub“-Sektion. „Polyamorös lebende Menschen“ üben sich – vielleicht in vorauseilender Anpassung an die kaum verhandelbare islamische Vielehe? – in „nichtmonogamer Beziehungsgestaltung“ und verabschieden sich vom sexuellen und emotionalen „Treueduktus“, weil er, wie bereits Kunzelmann dekretierte, unerträgliche „Besitzansprüche“ erhebe. 

Seitdem der anglo-italienische Politologe Guido Giacomo Preparata („Die Ideologie der Tyrannei“, Berlin 2015, JF 48/15) nachgewiesen hat, welche immens systemstabilisierende Rolle das Werk des französischen Philosophen und Diversity-Gurus Michel Foucault als den „Diskurs der Vernunft“ vergiftende Herrschaftsideologie des Globalismus in den USA und zunehmend auch in Westeuropa, allen voran im vom kulturell homogenen Nationalstaat zur Bunten Republik umgebauten Deutschland spielt, ist das Hochpolitische solcher vermeintlich privaten „Flexibilisierung der Geschlechterbeziehungen“ offenkundig. Darum darf eine von Verlindens Interview-Partnern, die „unverheiratete Brigitte (geb. 1950)“, all jene als legitime Erben des 68er-Utopismus ansehen, die mit dem „Absterben des Nationalstaates“ die Aussicht auf ein Ende „sexueller Zurichtung in der monogamen Einehe mit Kindern“ verknüpfen. 

Darin versteckt sich für die heftig mit „Brigitte“ sympathisierende Verlinden ein „Appell an die aktuell wirkmächtigen Generationen“, zuvörderst wohl an die vom US-Megaspekulanten und Foucault-Fan Georges Soros unlängst zur Hoffnungsträgerin der neoliberalen Brüsseler Antidemokraten ausgerufene Partei Bündnis90/Die Grünen, „neue Formen politischer Organisationen der Länder zu durchdenken“. Die natürlich jenseits des Nationalstaats zu finden sind, im „großen, einheitlichen Europa“, das als Idee „bereits eine Menge Menschen begeistern kann“. Was 1968 als Kulturkampf gegen die Einehe begann, mündet so in der grünen One-World-Vision grenzenlos klimaneutralen Swingerclub-Vergnügens.