© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/19 / 05. April 2019

Impulse vom Existentialismus
Literaturbetrieb: Der Schriftsteller Christoph Hein kann kommende Woche seinen 75. Geburtstag feiern
Thorsten Hinz

Viele Autoren aus der DDR verstummten nach der Wiedervereinigung, weil ihre Themen, ihr Schreibimpuls, ihr Resonanzraum und oft auch ihre Verlage verschwunden waren. Ganz anders verhält es sich mit Christoph Hein, dessen Produktivität geradezu explodierte.

Sein vorerst letzter Roman „Trutz“, der 2017 erschien, ragt dabei heraus. Er entrollt ein beklemmendes Panorama über das 20. Jahrhundert, welches das Berlin der zwanziger Jahre, die kommunistische Bewegung, das Exilland Sowjetunion, den Gulag, die DDR und schließlich das vereinte Deutschland umspannt. Sein Leitmotiv bildet die Mnemonik, die Kunst des unauslöschlichen Gedächtnisses, die „eine Blutspur hinter sich (herzieht) bis heute“. Denn „das Vergessen wird belohnt, nicht das Gedächtnis. Wenn Sie schnell und rasch vergessen, werden Sie glücklich auf Erden und können in Ruhe alt werden“.

Das Gedächtnis bewahrt hingegen auf, was die Helden der Gegenwart gestern und vorgestern getrieben haben, als das Gegenteil von dem, was heute als richtig gilt, angebetet wurde. Deshalb werden jene, die sich präzise erinnern, zum Störfaktor in der Gesellschaft. Vorsorglich spaltet man ihnen mit der Axt den Schädel, ihren „Gedächtnispalast“. Die Anpassung und die Lüge als Lebens- und Überlebensprinzipien haben mit dem Jahr 1989 keineswegs aufhört. Der alt gewordene Romanheld betrinkt sich daher zum Schluß mit Wodka der Marke „Gorbatschow“ und singt die „Fledermaus“-Arie: „Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist“.

Der Umstand, daß Christoph Hein 1944 in Heinzendorf im niederschlesischen Glatz geboren wurde, hat Rezensenten und Laudatoren regelmäßig veranlaßt, ihn zum letzten Vertreter einer (nachträglich konstituierten) Schlesischen Dichterschule zu ernennen. Den entscheidenden philosophischen und literarischen Impuls aber, der ihn in der DDR zu einem Solitär machte und der ihn auch über die schwierigen Jahre nach 1989 hinweg trug, empfing er vom Existentialismus. In der von Albert Camus inspirierten Novelle „Der fremde Freund“ von 1982 (die ein Jahr später unter dem Titel „Drachenblut“ auch im Westen erschien) wurde der entfremdete Mensch zum Anwendungsfall des real existierenden Sozialismus und zur Widerlegung seines propagierten Menschenbildes.

Ein Topos, den er im Roman „Der Tangospieler“ (1989) nochmals zuspitzte. Er erzählt von einem Leipziger Universitätsdozenten, der als Student inhaftiert wurde, weil er ein staatskritisches Couplet auf dem Klavier begleitet hatte. Die Rolle des politisch Verfolgten, in die er damit geriet, beruhte aber lediglich auf einem Zufall und einem Mißverständnis, so wie einst Meursault, Camus’ „Fremder“, nur deshalb zum Mörder wurde, weil ihn gerade die Sonne blendete und reizte.

Theaterstück als Allegorie auf das SED-Politibüro

Hein gehört, wie gesagt, zu den Autoren aus der DDR, die sich im bundesdeutschen Literaturbetrieb mit neuen Werken behaupten konnten. Sehr heutig erscheinen beim Wiederlesen aber auch die älteren. Der kleine SED-Funktionär aus dem Roman „Horns Ende“ (1987), der das private Glück für seinen politischen Glauben geopfert hat und nun in einem muffigen Altersheim seinen Lebensabend fristet – sein bitterer Schlußmonolog könnte auch von einem außer Dienst gestellten Politfunktionär der Gegenwart stammen.

Unvergeßlich für alle Besucher damals bleibt das im Frühjahr 1989 in Dresden uraufgeführte Theaterstück „Die Ritter der Tafelrunde“, eine Allegorie auf das SED-Politbüro: Den Gral haben sie nicht gefunden, den Glauben an sich selber verloren, für das Volk sind sie „ein Haufen von Narren, Idioten und Verbrechern“. Ist das nicht ein Abbild unserer Funktionseliten im Angesicht der aktuellen Krisen?

Im Roman „Willenbrock“ (2000) schlägt sich ein Ingenieur nach der Wiedervereinigung als Gebrauchtwagenhändler durch. Seine Geschäfte wickelt er mit Osteuropa ab. Er wird in seinem Haus überfallen, die Behörden können ihm nicht helfen, denn außer dem repressiven ist auch der behütende Staat verschwunden. Also lernt er die Pistole lieben, die ein russischer Geschäftspartner ihm überläßt: „Meine Smith&Wesson schützt mich besser als die Verfassung.“ Der Staat zieht sich ohnmächtig zurück, mafiotische und Clan-Strukturen treten an seine Stelle. Die warnende Flammenschrift stand bereits vor Jahrzehnten an der Wand.

Künstlerisch anspruchsvoll ist sein  2004 erschienener Roman „Landnahme“, der die Ankunft und schwierige Eingewöhnung einer aus Breslau vertriebenen Familie in einer sächsischen Kleinstadt schildert – ein allerletztes Zeugnis aus der Schlesischen Dichterschule. Am 8. April begeht Christoph Hein seinen 75. Geburtstag.