© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/19 / 05. April 2019

Der mystische Augenblick im Vorübergleiten der Zeit
Dichtkunst: Der Lyriker Jörg Bernig pflegt einen ganz eigenen Ton / Politisch scheut er keine öffentlichen Kontroversen, sondern regt sie sogar an
Bettina Gruber

Zu berichten ist über zwei bemerkenswerte Gedichtbände des sächsischen Lyrikers, Romanciers und Essayisten Jörg Bernig. Der 55jährige ist längst ein renommierter Poet, dessen Werk mehrfach ausgezeichnet wurde, unter anderem 2011 mit dem Eichendorff-Literaturpreis, eine Ehrung, die er mit so bekannten Namen wie Peter Huchel, Christine Busta, Günter de Bruyn und Christoph Hein teilt. Bernig ist Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste, der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste sowie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

Kontrovers diskutiert wurde seine Intervention „Habe Mut … Eine Einmischung!“ (2016), die er als „3. Kamenzer Rede“ (nach Friedrich Schorlem-

mer und Feridun Zaimoglu) in Lessings Geburtsstadt hielt (JF 40/16). Der Titel greift auf Kants berühmte Aufforderung „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ zurück, die Rede kritisiert in ebenso scharfer wie kultivierter Form die sogenannte Flüchtlingspolitik der Kanzlerin und die der „Politik der offenen Grenzen“ zugrundeliegende Geisteshaltung. Schon im Dezember 2015 hatte Bernig mit seinem Artikel „Zorn allenthalben“ in der Sächsischen Zeitung das Thema zu Empörung und Freude der verfeindeten Lager aufs Tapet gebracht. Darin beklagte er, daß der Staat seine Souveränität längst aufgegeben und sich die Konflikte anderer Kulturen ins Land geholt habe. „Heute schreiben so etwas viele (…), aber damals, vor den Übergriffen des Kölner Silvesters, wagte das kaum jemand“, kommentierte anerkennend die Neue Zürcher Zeitung Mitte März vorigen Jahres. 

Bernig ist also ein Intellektueller im klassischen Sinne, eine Person, die öffentlich Kontroversen nicht scheut, sondern anregt, wo er sie für unverzichtbar hält. Viel mehr als das ist Bernig jedoch ein Dichter im vollsten Sinn des Wortes. In seiner Lyrik ist die agonale Welt der politischen Auseinandersetzung gänzlich versunken, und sie versinkt schlagartig auch für den Leser, sofern dieser der Aufnahme von Gedichten fähig ist.

Erscheinungen des täglichen Lebens

Seine jüngsten beiden Gedichtbände „in untergegangenen reichen“ (2017) und „reise reise“ (2018), letzterer hervorgegangen aus einem Lyrik-Stipendium des Vereins „Literarisches Dresden“ und auch von diesem verlegt, verfügen über diesen Zauber, weil sie sich auf Erscheinungen des täglichen Lebens (wie etwa die sich auf dem Vordach sonnende Katze, die Dinge, die sich auf dem Tisch sammeln, das verblichene Emailschild auf einem Grabstein, „das reisetrunkene perlende reden der schwalben“) mit ruhiger Genauigkeit einlassen. Zugleich gehen sie niemals in diesen Detailbeobachtungen verloren, denn Bernigs Dichtung ist fasziniert vom Vorübergleiten der Zeit, in deren Fließen alles Beobachtete eingeschlossen erscheint.

Nicht zufällig spielt die Elbe, spielt „der alte fluß quicklebendig  und freudestrahlend im späten licht“ als Motiv eine tragende Rolle. Aus diesem Fließen treten einzelne Augenblicke und Beobachtungen heraus, die ihn für einen Moment zu suspendieren scheinen: „im schrägen licht tanzen / winzige wesen wie gäste aus wandernden welten / und die profane zeit sie gilt andern“. Das alte Motiv des „nunc stans“, des stehenden mystischen Augenblicks, gewinnt in den Versen neues und ganz konkretes Leben.

Diesen Momentaufnahmen („für die dauer eines angehaltnen atemzugs“ heißt eines der Gedichte) steht eine Vorliebe für die Beschwörung des Jahreslaufs entgegen: Jahreszeiten, im Wechsel oder in ihrer intensiven Präsenz, spielen eine auffallend große Rolle ebenso wie Festtage („mariä-lichtmesz-blues“, „pfingstmontag“), die sich als Wegmarken in die natürlichen Abläufe eingeschlagen finden. Bernig ist ein belesener Dichter und die literarischen Anklänge (so an T.S. Eliot, an die Romantik, das Rilkesche Dinggedicht, an George, aber auch an Brecht) sind zahlreich. Sie erweitern den Resonanzraum  seiner Lyrik, ohne je die Originalität und den ganz eigenen Ton dieser poetischen Sprache zu beeinträchtigen. Die insgesamt über hundert Gedichte machen klar, daß man es bei Jörg Bernig mit einem bedeutenden deutschprachigen Lyriker der Gegenwart zu tun hat.

Jörg Bernig: in untergegangenen reichen. Edition Rugerup, Berlin 2017, broschiert, 124 Seiten, 18,90 Euro

Jörg Bernig: reise reise. Gedichte. Edition Buchhaus Loschwitz, 2018, broschiert, 32 Seiten, 14,90 Euro