© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/19 / 05. April 2019

Mägde der Politik
„Expertokratie“: Der Historiker Caspar Hirschi kritisiert die klientelistische Expertenkultur als Gegenwartsproblem
Ludwig Witzani

Der Experte ist der Mann der Stunde. Ob bei der Feinstaubbelastung, bei Rinderwahn oder Atomausstieg, überall verkünden Experten ihre Absicherung einer vermeintlich rationalen Politik. Grund genug für Caspar Hirschi, Professor für Geschichte in St. Gallen, nach geschichtlichen Ursprüngen und Rollenkonflikten des Expertentums zu fragen. 

Den Ursprung des Expertentums identifiziert Hirschi im Frankreich Ludwigs XIV., das die Rolle des Experten als Gerichtssachverständigen einführte und als seine Kernmomente „Sachverstand und Unabhängigkeit“ definierte. Ihnen folgen die hoch angesehenen Koryphäen der großen Wissenschaftsakademien von Paris, London und Berlin, die im Auftrag des Königs strittige Sachfragen klärten – und schließlich hochspezialisierte Wissenschaftler, die als Mitglieder von Expertengremien Entscheidungen der Politiker legitimieren und abfedern sollten. In sechs wissenschaftsgeschichtlichen Fallstudien beschreibt der Autor die Probleme, die sich damit ergeben und entwickelt dabei Bausteine zu einer Theorie des aktuellen Expertentums.

Wissenschaft wird politisch in den Dienst genommen 

Die erste Fallstudie „Aufstieg und Fall eines drogenpolitischen Technokraten“ beschäftigt sich mit dem Psychopharmakologen David Nut, der im Zusammenhang mit einer Neudefinition der britischen Drogenpolitik seine Beraterrolle überdehnte und zum Aktivisten wurde. In „Der animalische Magnetismus vor dem Expertentribunal“ beschreibt das spannungsreiche Verhältnis außerwissenschaftlicher Autodidakten zur etablierten Wissenschaftsgemeinde. Wie sehr das Expertentum bereits in der Frühphase seiner Entwicklung die Tragfähigkeit seiner eigenen Urteile überdehnte, zeigt das Kapitel „Mord oder Selbstmord. Experten in der Affäre Calas“ am Beispiel eines Justizmordes im 18. Jahrhundert. Schon in die Untiefen der Detailanalyse führt das Kapitel über den Dreyfußskandal, dessen Verlauf entscheidend durch graphologische Expertisen beeinflußt wurde. 

Die mit Abstand interessanteste Fallstudie beschäftigt sich mit dem „Expertenbeben von L’Aquila“. Im Vorfeld des Erdbebens von L’Aquila, das im April 2009 über 300 Menschenleben kostete,  hatte sich ein Expertengremium vor den Karren einer verantwortungslosen Beschwichtigungspolitik spannen lassen. Hirschi bezeichnet diese Schwundform der Expertise als „klientelistische Expertenkultur“ und erkennt in ihr das Kennzeichen des modernen Expertentums überhaupt. Ihre Voraussetzung ist die fast vollständige Indienstnahme der Wissenschaft durch die Politik, und ihre Nutznießer sind politische Akteure jeglicher Couleur. Hirschi zeigt, wie auch Obama nicht davor zurückschreckte, etwa im Zusammenhang mit dem iranischen Atom-Deal  mit „handverlesenen Experten“ einer „uninformierten“ Journalistenöffentlichkeit ihre Sicht der Dinge als „Sachzwang“ zu verkaufen.

Aber der Autor geht noch einen Schritt weiter und enthüllt die Tiefenstruktur klientelistischer Expertenkultur in den sogenannten „Peer Reviews“. Statt Instrumente unabhängiger Qualitätssicherung deutet Hirschi die anonymisierten Gutachten als wirkungsvollstes Mittel zur Sicherung von Herrschaftsmeinungen.  

Caspar Hirschis Befund in seinem ungemein anregenden und erhellenden Werk ist letztlich eindeutig: die klientelistische Expertenkultur, deren Mitlieder sehr genau darauf achten, den „Patron“ nicht zu verärgern und die sich selbst aus Karrieregründen gegen Irritationen und konkurrierende Experten abschließen, wirkt nicht immer, aber oft als Element der Transparenzreduktion und Entdemokratisierung innerhalb einer nur scheinbar rationalen Wissensgesellschaft. Gelegentliche Schienbeintritte gegen einen ominösen „Populismus“ muten fast wie Pflichtübungen an. Allerdings kritisiert Hirschi mit angezogener Handbremse. So thematisiert er die weltweit wohl einflußreichste klientelistische Expertenkultur unserer Tage im Umfeld des Weltklimarates nicht, obwohl sich nicht nur in den USA Trumps die Geister daran scheiden.

Caspar Hirschi: Skandalexperten, Expertenskandale. Zur Geschichte eines Gegenwarts-problems. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018, gebunden, 398 Seiten, 22 Euro