© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/19 / 12. April 2019

Kein bißchen Frieden
Bundestag I: Erneut verweigert die Mehrheit des Bundestages der AfD einen Sitz im Parlamentspräsidium / Gerold Otten neuer Kandidat
Jörg Kürschner / Christian Vollradt

Nach dem erneuten Scheitern ihrer Kandidatin Mariana Harder-Kühnel bei der Wahl zur Bundestagsvizepräsidentin wirft die AfD-Bundestagsfraktion den etablierten Parteien und Teilen der Medien eine gezielte Ausgrenzung und Diskriminierung vor. Trotz dieser Kampagne besteht sie auf der Besetzung des Postens, der ihr nach der Geschäftsordnung zusteht. Am Dienstag nominierte die Fraktion den Abgeordneten Gerold Otten als neuen Kandidaten. Voraussetzung für einen ersten Wahlgang noch in dieser Woche war die Zustimmung des Ältestenrats des Bundestags. 

Vor der Fraktionsentscheidung hatten die emotionalen Ausführungen des Parlamentsgeschäftsführers Bernd Baumann erkennen lassen, wie stark sich die Fraktion von der brüsken Abfuhr Harder-Kühnels getroffen fühlt. Es war nicht nur die Nichtwahl, es war insbesondere auch das niederschmetternde Ergebnis, das die aus Hessen stammende Juristin zu verkraften hatte. Hatte sie im ersten Wahlgang im November noch 223 Jastimmen bekommen, im zweiten sogar 241, so waren es am Donnerstag vergangener Woche nur 199 bei 423 Ablehnungen. Es war nach dem gleichfalls aus Hessen stammenden Abgeordneten Albrecht Glaser bereits der zweite Anlauf der AfD, ins Bundestagspräsidium einzuziehen.

Ärger über „Dolchstoß“      aus den eigenen Reihen

„Wenn das keine Kriegserklärung war, dann weiß ich auch nicht“, hatte sich Fraktionschef Alexander Gauland im Anschluß an die Sondersitzung seiner Abgeordneten unmittelbar nach dem Wahlgang empört. „Ein Friedensschluß war es jedenfalls nicht – höchstens ein Versailler Vertrag“, so der häufig mit historischen Analogien operierende AfD-Senior bitter. Seine Co-Fraktionschefin Alice Weidel sprach von einem „Schlag ins Gesicht der Demokratie in diesem Hause“.

Die AfD will nun im Fall der Nichtwahl von Otten, einem 63jährigen ehemaligen Kampfpiloten und Oberst der Reserve aus München, in jeder Sitzungswoche über einen Vizepräsidenten abstimmen lassen, wie Baumann während des Pressegesprächs ankündigte. Ihm ist klar, daß ständige Wahlgänge wertvolle Zeit kosten würden. Doch das „Affentheater“ der anderen Fraktionen lasse der AfD keine andere Wahl. Der Kandidat werde aber nicht vorher das Gespräch mit den übrigen Fraktionen suchen, betonte er. In den vergangenen Wochen hatte es entsprechende Begegnungen Harder-Kühnels mit den Fraktionsführungen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen gegeben. Trotz einer Anfrage sei eine Unterredung mit der Linken nicht zustande gekommen. Als „Doppelstrategie“ bewertete der AfD-Politiker das Verhalten der Fraktionschefs von CDU/CSU und FDP, Ralph Brinkhaus und Christian Lindner. Mit unterschiedlicher Begründung hatten diese nach Gesprächen mit Harder-Kühnel ihr die eigene Stimme zugesagt, eine an die Fraktion gerichtete Wahlempfehlung aber vermieden. Brinkhaus und Lindner dürften über das Abstimmungsverhalten ihrer Fraktionen nicht überrascht gewesen sein, meinte Baumann.

Gereizt widersprach er einer Meldung von Spiegel Online, in der unmittelbar vor dem Wahlgang von Vorbehalten in der AfD-Fraktion gegen Harder-Kühnel wegen deren angeblicher Nähe zum rechten „Flügel“ berichtet wurde. Das Nachrichtenmagazin berufe sich auf anonyme Quellen, an die er nicht glaube, sagte Baumann. Andere in der Fraktion wurden da deutlicher. Von einem „Dolchstoß“ gegen die Kandidatin war die Rede. Vertreter der Alternativen Mitte betonen, in ihren Reihen gebe es keinerlei Vorbehalte gegenüber der familienpolitischen Sprecherin, im Gegenteil, man schätze sie als Frau der eher leisen Töne sehr. Die Urheber der Querschüsse vermuten andere eher unter Leuten, die in Harder-Kühnel vor allem eine persönliche Konkurrentin sahen. Mit ihren zum politischen Richtungsstreit verbrämten Vorbehalten seien sie hausieren gegangen – und schließlich beim Spiegel in letzter Minute erfolgreich gewesen. Mancher nennt es in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß der erste Kandidat der AfD für das Amt des Bundestagsvizepräsidenten im ZDF-„Heute-Journal“ bei der Frage, ob er für Frau Harder-Kühnel votiert habe, auf die „geheime Stimmabgabe eines jeden Abgeordneten“ verwiesen habe. 

Daß der Beitrag auf Spiegel Online maßgeblichen Einfluß auf die Nicht-Wahl Harder-Kühnels gehabt habe, halten andere Abgeordnete indes für nicht sehr wahrscheinlich. Für solch eine spontane Entscheidung sei die Zahl der Neinstimmen zu groß gewesen. Sicherlich hätten sich die jüngsten Verwerfungen in der bayerischen Landtagsfraktion (siehe Meldung Seite 4) als „nicht gerade hilfreich“ erwiesen, meint ein Bundestagsmitglied. Deswegen könnte sich die allgemeine Anti-AfD-Stimmung speziell in der CSU noch mal verstärkt und so auf das Votum der gesamten Unionsfraktion ausgewirkt haben. 

Die Durchsetzung der ihr nach der Geschäftsordnung zustehenden Rechte will die AfD nach den Worten Baumanns nicht auf das Amt des Vizepräsidenten beschränken, waren doch AfD-Bewerber in den vergangenen Monaten bei Kandidaturen für fünf Bundesgremien zum Teil mehrfach durchgefallen. Darunter sind drei, deren Mitglieder besonderen Geheimhaltungspflichten unterliegen, wie das Vertrauensmännergremium, das zuständig ist für die Wirtschaftspläne der Nachrichtendienste, das Bundesfinanzierungsgremium, das die Verschuldung des Bundes kontrolliert, sowie das Sondergremium, das die Beteiligung des Bundestags bei Aufkäufen von Staatsanleihen eines Euro-Mitgliedstaates kontrolliert. 

Ein Mitglied der AfD-Fraktionsführung will unter den Kollegen der anderen Parteien folgende Stimmung wahrgenommen haben: Die Parlamentsnovizen sollten sich mäßigen, und zwar nicht allein im Verbalen oder Inhaltlichen, sondern in den allgemeinen Verhaltensweisen. Dann, nur dann werde man ihnen – sozusagen als Belohnung – bei der Wahl für die Gremien künftig keine Steine mehr in den Weg legen.