© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/19 / 12. April 2019

Willkommen im Blähnarsaal
Bundestag II: Zum wiederholten Male können sich die Fraktionen nicht auf eine Wahlrechtsreform zur Verkleinerung des Parlaments einigen
Jörg Kürschner

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden „in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt“, heißt es in Artikel 38 des Grundgesetzes. Doch was rechtstheoretisch einleuchtend klingt, ist in der praktischen Umsetzung höchst kompliziert. Der Teufel steckt im Detail, da sich der Verfassungsgeber, der Parlamentarische Rat, 1949 für das Verhältniswahlrecht entschieden hat. Eine harte Nuß für künftige Politikergenerationen, die selbst der promovierte Jurist, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble bisher nicht zu knacken vermochte. „Trotz intensiver Bemühungen ist es uns nicht gelungen, zu einem Konsens zu kommen“, mußte er soeben den Vorsitzenden der sechs Fraktionen mitteilen.

Ein knappes Jahr hatte Schäuble mit Vertretern der Fraktionen über eine Wahlrechtsreform beraten. Es geht um eine Verkleinerung des Bundestags, dem derzeit 709 Parlamentarier angehören. Ein Höchststand, denn nur 598 Abgeordnete sind vorgesehen. Schuld an der erhöhten Zahl ist das komplizierte Wahlsystem. Jeder Wähler hat zwei Stimmen. 

Mit der „Erststimme“ werden die Abgeordneten in den 299 Wahlkreisen bestimmt, mit der „Zweitstimme“ die Partei über die Landesliste. Fällt der Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme allzu groß aus, etwa 50 Prozent für den Kandidaten der Partei X, aber nur 30 Prozent für die Partei X selbst, kommt es zu Überhangmandaten. Mehr direktgewählte Kandidaten kommen in den Bundestag als der Partei nach den Zweitstimmen zustehen. Diese Überhangmandate der Partei X generieren Ausgleichsmandate der übrigen Parteien, um sicherzustellen, daß im Parlament das Machtverhältnis zwischen den Parteien so ist, wie es die Wähler entschieden haben. Derzeit gibt es im Bundestag 46 Überhangmandate (43 für CDU/CSU, drei für die SPD) und 65 Ausgleichsmandate. Eine Rekordzahl.

Union will nicht an           Direktmandaten rütteln

Schäubles Überlegung war es, die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 270 zu verringern. Damit würde es aller Wahrscheinlichkeit nach weniger Überhangmandate geben, mit der Folge, daß diese auch durch weniger Ausgleichsmandate kompensiert werden müßten. Diese wiederum sollten auf 15 begrenzt werden, was das Bundesverfassungsgericht in einer früheren Entscheidung für zulässig erklärt hatte. Eine Wahlrechtsreform, die zu einer deutlichen Verkleinerung des Bundestags führe, würde zu Lasten aller Fraktionen gehen, hatte Schäuble zu Beginn der Beratungen betont.

Doch die Angst der Parteien, künftig weniger Abgeordnete in den Bundestag schicken zu können, war stärker als die Angst vor einer weiteren Aufblähung des Parlaments. Umfrageergebnisse deuten nämlich auf ein weiteres Anwachsen des Bundestags hin. CDU/CSU wollen nicht an den Direktmandaten rütteln. Die Zahl der Wahlkreise zu reduzieren würde die nötige demokratische Repräsentanz vor Ort erheblich beschädigen, sagte CDU-Parlamentsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer. Schäubles 15 Mandate-Vorschlag wäre nach Ansicht des FDP-Rechtsexperten Stefan Ruppert eine Bonusregelung für die Union, Linken-Politiker Friedrich Straetmanns hält die Überlegung für verfassungswidrig. Grünen-Parlamentsgeschäftsführerin Britta Haßelmann wie auch ihr SPD-Kollege Carsten Schneider werfen der Union fehlende Kompromißbereitschaft vor. Der AfD-Vertreter Albrecht Glaser hatte in der Arbeitsgruppe für eine Reduzierung der Direktmandate plädiert und einen eigenen Vorschlag vorgelegt. Danach sollte die Zahl der Direktmandate abhängig sein vom Ergebnis der Zweitstimmen einer Partei. Man müsse beim System der Direktkandidaten einen Preis bezahlen, um ein übergeordnetes Ziel, eine Wahlrechtsreform mit Gleichbehandlung aller Parteien, zu erreichen. Das vorläufige Scheitern dürfte Schäuble nicht entmutigen, weiter nach einer Einigung zu suchen. Der Methusalem unter den Abgeordneten – er gehört dem Bundestag seit 1972 ununterbrochen an – gilt als hartnäckig und ehrgeizig.