© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/19 / 12. April 2019

Etablierte im freien Fall
Frankreich: Mangels Alternativen bleibt Le Pens Rassemblement National an der Spitze des Protests
Alain De Benoist

Aktuellen Umfrageergebnissen zufolge ist damit zu rechnen, daß Marine Le Pens Rassemblement National (RN) bei den Europawahlen Ende Mai mit einem Stimmenanteil von 22 bis 24 Prozent ungefähr mit Emmanuel Macrons La République en marche (LREM) gleichauf liegen wird. 

Damit würde die Gruppierung an den Erfolg des Front National von 2014 (24,8 Prozent) anknüpfen und sich als wichtigste Oppositionskraft in Frankreich positionieren – weit vor den Republikanern unter Laurent Wauquiez, deren Anteil aktuell auf 13 Prozent geschätzt wird, Jean-Luc Mélenchons linksradikaler La France insoumise (Unbeugsames Frankreich; sieben Prozent) und den einst regierenden Sozialisten (5,5 Prozent).

Vom EU-Austritt ist längst keine Rede mehr

Was auf den ersten Blick nach einem Triumph für Marine Le Pen aussieht, gestaltet sich bei näherem Hinsehen doch etwas nuancierter. Vor allem hat sie seit ihrer desaströsen Debatte mit Macron im Präsidentschaftswahlkampf 2017 ein Glaubwürdigkeitsproblem. 

Galt sie zuvor als Sympathieträgerin, die zahlreiche Neumitglieder motivierte, dem RN beizutreten, so trifft heute eher das Gegenteil zu: Der RN bleibt – trotz Le Pen und mangels besserer Alternativen – weiterhin als Sammelbecken für all jene attraktiv, die ihrem Protest möglichst lautstark Ausdruck verleihen wollen. 

Von den Wählern, die angaben, die Gelbwesten-Bewegung (Gilets jaunes) „voll und ganz“ zu unterstützen, stimmten 44 Prozent in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen für Le Pen, 27 Prozent für Jean-Luc Mélenchon.

Eingeweihte berichten von einem chaotischen Innenleben der Partei, die von persönlichen Rivalitäten, Fraktionskämpfen und Dilettantentum zerrissen werde. Ihre von Anfang an unscharfe politische Linie hat sich im Laufe der vergangenen Monate stark verändert: So ist von einem Austritt aus dem Euro, geschweige denn aus der Europäischen Union, keine Rede mehr, seit die Erfolge populistischer Bewegungen in verschiedenen Mitgliedstaaten reale Chancen versprechen, die Ziele und Ausrichtungen der europäischen Institutionen von innen zu verändern. 

Bei ihren regelmäßigen Fernsehauftritten haben Vertreter des RN nur selten überzeugende Vorschläge zu wirtschaftlichen, sozialen, gesundheits- oder bildungspolitischen Fragen sowie zu außen- oder umweltpolitischen Themen beizutragen. 

Entsprechend heterogen ist auch die Liste der Kandidaten, die die Partei bei den Europawahlen aufbietet, darunter die ehemaligen Republikaner Thierry Mariani und Jean-Paul Garraud sowie Hervé Juvin, ein brillanter Publizist ohne jegliche politische Erfahrung. Angeführt wird sie von Julien Langella, mit 32 Jahren ein unbeschriebenes, wenngleich vielversprechendes Blatt. 

Abzusehen ist indes, daß sich bei der Europawahl die deutliche Tendenz in Richtung einer allgemeinen Neuordnung der politischen Kräfte bestätigen wird, die durch den Bedeutungsverlust der etablierten Parteien und damit zugleich des Rechts-Links-Gefälles gekennzeichnet ist, das die französische Politik seit den 1970er Jahren strukturierte und zu einem regelmäßigen Wechsel zwischen linken (Mitterrand, Hollande) und rechten Regierungen (Giscard d’Estaing, Chirac, Sarkozy) führte. 

Das eigentlich Bemerkenswerte an den letzten Präsidentschaftswahlen war, daß – erstmals in der Geschichte der Direktwahl des französischen Staatsoberhaupts – keine der beiden Großparteien, die das politische Geschehen bis dato dominiert hatten, in der zweiten Wahlrunde vertreten war. Beide Finalisten, Marine Le Pen ebenso wie Emmanuel Macron, verweigerten sich einer Einordnung als „rechts“ oder „links“. 

Die Regierung, die Macron nach seinem Wahlsieg bildete, setzt sich im wesentlichen aus Rechts- und Linksliberalen zusammen. Dabei ist das „Macron-Phänomen“ nicht etwa als Ursache der Obsoleszenz des Rechts-Links-Gefälles zu sehen, sondern vielmehr als Ergebnis einer längerfristigen Entwicklung.  

Beide Großparteien hatten im Laufe der vergangenen zehn Jahre sowohl mit wachsenden internen Spannungen als auch mit einem zunehmenden Machtverlust innerhalb ihres jeweiligen politischen Lagers zu kämpfen. Die Sozialistische Partei fiel während François Hollandes Präsidentschaft der Selbstzerstörung anheim. 2017 brachte ihr Kandidat Benoît Hamon es als Befürworter von Einwanderung und „Gender“-Lehre nur mehr auf 6,4 Prozent der Stimmen – fünf Jahre zuvor waren es noch 28,6 Prozent gewesen. 

Auf der rechten Seite des Spektrums sind die Republikaner, die bereits 2014 vom Front National geschlagen und durch das Scheitern von François Fillon 2017 weiter geschwächt wurden, nicht in der Lage, sich zwischen Rassemblement National und La République en marche zu behaupten. 

Etwa die Hälfte ihrer Mitglieder – insbesondere diejenigen, die sich auf das Erbe de Gaulles berufen – liebäugelt zunehmend mit Le Pens Partei. Die andere Hälfte, die sich als zentristisch und proeuropäisch definiert, fühlt sich Macron näher. Laurent Wauquiez tut sich schwer damit, eine Synthese zwischen diesen beiden Strömungen herzustellen. 

Republikaner werden nicht mehr lange überleben

Nach Alain Juppé hat auch der ehemalige Ministerpräsident Jean-Pierre Raffarin bereits beschlossen, bei den Europawahlen Macrons Partei zu unterstützen. Selbst der Listenführer der Republikaner, der junge Philosoph François-Xavier Bellamy, behauptet, in europäischen Fragen Macron näherzustehen als Le Pen. Man darf bezweifeln, daß die Partei noch lange überleben kann. 

Die Sozialisten und die Republikaner gehen somit als die großen Verlierer aus der Transformation der französischen Politlandschaft hervor, während die Opposition gegen Macron sich zwischen Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon polarisiert – eine Entwicklung, wie sie in ähnlicher Form in zahlreichen europäischen Ländern zu beobachten ist: populistische Bewegungen im Aufschwung, etablierte Parteien mehr oder weniger im freien Fall, während spontane Protestbewegungen wie die Gilets jaunes immer mehr Zulauf erhalten.