© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/19 / 12. April 2019

Gefährliche Exportabhängigkeit
25 Jahre Welthandelsorganisation: Die deutschen Überschüsse erzürnen nicht nur Donald Trump
Albrecht Rothacher

Vor einem Vierteljahrhundert wurde im 925 Jahre alten Marrakesch die Welthandelsorganisation (WTO) gegründet. Die in Genf beheimatete WTO entstand aus der seit 1948 bestehenden Organisation des Weltfreihandelsabkommens (Gatt). Das Gatt-Grundprinzip der nichtdiskriminierenden Meistbegünstigung – Zölle müssen für alle Importeure unter den heute 164 WTO-Mitgliedern gleich sein – beflügelte das deutsche Wirtschaftswunder und beschleunigte den Wiederaufbau von Industrien und Städten.

Eine Serie multilateraler Handelsrunden (Annecy 1949, Torquay 1951, Genf 1955–56, Dillon 1960–61, Kennedy 1964–67, Tokio 1973–79 und Uruguay 1986–94) reduzierte weltweit die Zölle und andere Handelshindernisse und schützte das geistige Eigentum wie Patente und Handelsmarken – nicht zuletzt zum Wohle der deutschen Exportwirtschaft, von der mit einer derzeitigen Exportquote von 47 Prozent mindestens jeder dritte Arbeitsplatz direkt abhängt.

Bilaterale und regionale Freihandelsabkommen

Alles ging gut – bis China, Indien, Brasilien und Rußland Mitglieder wurden. Die großen Länder profitieren zwar vom Freihandel für ihre Exporte, sie halten sich bei Importen jedoch oft nicht an die WTO-Regeln. Der aktuelle EU-Kommissionsbericht zu weltweiten Handels- und Investitionshindernissen listet für China 37 solcher protektionistische Barrieren auf, für Rußland 34, für Indien und Indonesien je 25, gefolgt von den USA (23), der Türkei (20) und Brasilien (18). Im ganzen werden EU-Exporte in dreistelliger Milliardenhöhe behindert oder sogar verhindert.

Die nach den Krawallen von Seattle (wo 1999 Demotouristen aller Länder randalierten) 2001 in Doha (Katar) begonnene neue Welthandelsrunde kommt nicht mehr vom Fleck. Auch das bei den häufigen Handelsdisputen angerufene WTO-Schiedsgericht in Genf ist kaum noch funktionsfähig, weil die USA unter Donald Trump neue Richterernennungen blockieren und wegen auslaufender Amtszeiten Revisionsverfahren nicht mehr durchgeführt werden können.

Auf diese Blockaden reagierten die meisten Exportländer mit einer Vielzahl an bilateralen und regionalen Freihandelsabkommen. Die EU schloß solche zum Beispiel mit Südkorea (2011), Japan (Jefta 2017), Kanada (Ceta 2018) und aktuell Singapur (EUSFTA). Gerade das Schlichtungsverfahren zu Ceta wurde zum Stein öffentlichen Anstoßes, obwohl es sich von jenem der WTO kaum substantiell unterschied. Präsident Donald Trump stieg aus dem transatlantischen TTIP und dem transpazifischen TPP rechtzeitig aus, bevor Greenpeace und Globalisierungsgegner dagegen mobilisieren konnten.

Nicht erst seit den US-Attacken auf chinesische Exporte sind auch Deutschland, Japan, Südkorea und die Niederlande in die Feuerlinie der defizitären Nettoimporteure geraten, deren wenig wettbewerbsfähige Industrien darniederliegen. Deutschland steht besonders im Washingtoner Fokus, weil der schwache Euro unsere Exporte künstlich verbilligt. Importe oder Auslandsreisen werden hingegen verteuert. 2008 bekam man für einen Euro noch über 1,55 Dollar – heute sind es keine 1,13 Dollar mehr. Anders als zu D-Mark-Zeiten kann die Bundesbank aber nicht mehr aufwerten, wie dies wirtschaftlich geboten und vernünftig wäre.

Für andere reicht die Euroschwäche nicht aus. Die Target-2-Salden der Bundesbank sind zwischen Januar und März von 868,1 auf 941,3 Milliarden Euro geklettert. Gegenüber den Hauptschuldnern Italien, Spanien und Frankreich sind sie als Forderungen praktisch uneinbringlich. Der deutsche Arbeiter, der zur Miete wohnt und für Nullzinsen spart, hat somit zugunsten von Eigenheimbesitzern im EU-Süden umsonst geschuftet. Auch die Griechenland-Hilfen, die unter anderem die Kredite für deutsche Panzer, Pkws und Konsumgüter ablösten, können bei Fälligkeit ab 2045 abgeschrieben werden.

Diskussion um deutsche  Mehrwertsteuersenkung

Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium hat sich nun auch der „Probleme der deutschen Leistungsbilanz“ angenommen. Dabei geht es um jährlich mehr als 250 Milliarden Euro an Waren und Dienstleistungen, die Deutschland mehr ex- als importiert – oder im Trump-Sprech: die Mercedes-Limousinen in New York und die wenigen Jeeps in München, die Amerikaner auf dem Oktoberfest und die wenigen Deutschen in Miami Beach. Um es vorwegzunehmen: Die 34 Professoren haben für CDU-Minister Peter Altmaier keine Patentlösung, um die Handelskonflikte zu entschärfen.

„Ein zielführender Schritt zur Senkung der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse besteht in der einseitigen Senkung der deutschen Umsatzsteuer“, heißt es in der Studie. Doch diese ist mit 95,5 Milliarden Euro (Anteil: 29,4 Prozent) Hauptsteuerquelle von Finanzminister Olaf Scholz (SPD). Eine Erhöhung der Einkommensteuer (26,7 Milliarden, Anteil 8,2 Prozent) zur Gegenfinanzierung, eine Schuldenfinanzierung zu Nullzinsen oder gar Einsparungen in den verschwenderischen, unproduktiven öffentlichen Haushalten lehnen die Beiratsmitglieder mehrheitlich ab. Nur im Fall einer „schweren internationalen Rezession“ könne „trotz der hier vorgetragenen Bedenken eine zeitweise Senkung der Umsatzsteuer als rasch implementierbares Mittel zur Beeinflussung der Leistungsbilanz in Betracht gezogen werden“.

Dabei ist die Mehrwertsteuer eine der unsozialsten Steuern. Eine erhöhte Kaufkraft würde die Binnennachfrage beleben, Exporte reduzieren und Importe fördern. Mit zehn Prozent 1968 eingeführt, stieg die Umsatzsteuer bis 1998 in Ein-Prozent-Schritten auf 16 Prozent. Den größten Sprung gab es unter Angela Merkel: Anders als im Wahlkampf versprochen, stieg die Steuer 2007 von 16 auf 19 Prozent. In der Schweiz sind es nur 7,7 Prozent. In den USA liegt die Sales tax zwischen null (Delaware, Montana, Oregon) und 7,25 Prozent (Kalifornien). Teilweise gibt es lokale Zusatzsteuern (Alabama: 13,5 Prozent).

Kräftige Lohnerhöhungen lehnt die Studie ebenfalls ab, weil dies „rezessive Impulse auf Beschäftigung und Einkommen entfalten oder verstärken und damit die deutsche Importnachfrage dämpfen“ würde. Exportsteuern seien unvereinbar mit dem EU-Binnenmarkt. Es blieben fiskalische Maßnahmen: „Die Verringerung der Steuerbelastung von Inlandsinvestitionen oder inländischen Kapitalerträgen relativ zu derjenigen der Kapitalexporte kann wirksame Anreize für ein Abbremsen des Kapitalexports setzen.“ Doch das wird kaum passieren – und transatlantische Handelsdispute sowie die deutschen Targetsaldenverluste dürften sich daher fortsetzen.

Gutachten „Wirtschaftspolitische Probleme der deutschen Leistungsbilanz“:

 www.bmwi.de

 www.wto.org