© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/19 / 12. April 2019

Reden über Leben und Tod
Auseinandersetzung mit Herkunft und Identität: Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff kann kommende Woche ihren 65. Geburtstag feiern
Felix Dirsch

Die Schriftstellerin Sibylle Lewi-tscharoff stand 2014 neben Vertretern des linksliberalen Establishments (Prantl, Willemsen, Trittin) auf der Liste der Vortragenden bei den renommierten Dresdner Reden. Eigentlich schien für die Veranstalter alles richtig vorausgeplant. Jedoch hielt sich die einzige Autorin nicht an ungeschriebene Regeln und Tabus. Sie redete ausdrucksstark und assoziativ, so daß fast vermutet werden darf, sie wollte einen Skandal provozieren.

Die sehr persönlich gehaltene Ansprache (JF 12/14) im Staatsschauspiel Dresden rief großes Aufsehen hervor. Sie rückte vor allem die Themen Leben und Tod in den Vordergrund. Lewitscharoff stellte den Bezug zu ihrer Biographie heraus: Als sie elf Jahre alt war, schied ihr Vater, ein aus Bulgarien emigrierter Arzt, der den Christusnamen („Kristo“) trug, freiwillig aus dem Leben; Mutter und Großmutter gingen mit dem bevorstehenden Ende ihres Daseins völlig unterschiedlich um. Von diesen Familienbegebenheiten ausgehend, spannte Lewitscharoff den Bogen zum (im heutigen technischen Zeitalter) üblichen Umgang mit Anfang und Ende der Existenz: Heikle Themen wie pränatale Diagnostik, Leihmutterschaft und Designer-Baby wurden ebenso erörtert wie Fragen zur Reproduktionsmedizin. Selbst zum biblischen Onanie-Verbot äußerte sie sich. 

Mit erregter Stimme nahm Lewi-tscharoff Stellung zum künstlichen „Fortpflanzungsgemurkse“. Sie scheute nicht einmal davor zurück, NS-Kopulationsheime damit in Verbindung zu bringen und Kinder, die so gezeugt wurden, als „Halbwesen“ anzusehen – eine Wortwahl, von der sie sich später distanzierte. 

Wider den Stachel der politischen Korrektheit

Der unvermeidliche Aufschrei der ob solcher Worte Betroffenen ließ nicht lang auf sich warten. Menschenverachtende Überlegungen seien die Einlassungen gewesen, so der fast einhellige Tenor. Sachliche Kritiker wie die Medizinethikerin Barbara Schöne-Seifert verwiesen immerhin darauf, daß künstliche Eingriffe in die Natur Hauptaufgabe der Heilkunst seien. Das Faktum sagt freilich auch hier nichts über die Norm oder die Güte aus.

Doch Lewitscharoff löckte auch anderweitig wider den Stachel der politischen Korrektheit. Ihre Züricher Poetik-Vorlesungen umschreibt sie etwas hochtrabend mit „Vom Guten, Wahren und Schönen“ (2012). Die erhabenen Werte seien es, die interessieren! Folglich ist es naheliegend, daß sie mit kulturpessimistischem Blick die omnipräsenten „flackernden Bildmedien“ betrachtet: Den „Facebook-Quatsch“ nimmt sie ebenso aufs Korn wie Sendungen in der Art von „Deutschland sucht den Superstar“ – und das, obwohl ihr Werk auch von der populären Musik-, Film- und Literaturszene geprägt ist.

In ihren Romanen spielt der Wechsel von Tod und Leben ebenso eine zentrale Rolle. In „Consummatus“ (2006) spielt der Protagonist namens Zimmermann als ehemaliger Lehrer einen postmodernen Professor Unrat, der sich in die Spelunken-Tussi Joey verliebt. Sie kommt bei einem von ihm verschuldeten Unfall ums Leben, und der moderne Orpheus will seiner Eurydike nachfolgen. Er kehrt mit einer bewußtseinserweiternden Nahtoderfahrung zurück ins irdische Dasein. Der Verfasserin gelingen amüsante Dialoge, „ungeachtet aller Grenzen zwischen den Welten“ (Ulrich Rüdenauer). Der Titel „Consummatus“ kann auch „vollbracht“ bedeuten und spielt auf die überlieferten letzten Worte Jesu Christi am Kreuz an. Das Potpourri von (oft unentwirrbaren) realistischen und phantastischen Narrationssträngen hat man treffend als „Narrentanz“ (Georg Langenhorst) bezeichnet.

Die Trägerin des Georg-Büchner-Preises (2013) stellt viele originelle Figuren in ihrem Werk heraus: Da ist der Titelheld „Pong“ ihres gleichnamigen Romans, der ihr einen ersten größeren Erfolg bescherte. Dieser komische Kauz geistert durch die Erzählung in der Nachfolge bedeutender Phantasiefiguren der Romantik, als Getriebener in einem unverständlichen „Flimmerheer von tausend Zeichen“. Ebenso in der märchenhaften Tradition steht der Text „Der höfliche Harald“. Lewitscharoffs Wunderland heißt Oblivion.

Erlösung von Schuld als christlicher Hintergrund

Einen Hang zur Obsession lassen fast alle Gestalten der aus Stuttgart stammenden Dichterin erkennen. In „Montgomery“ (2003) trägt der Titelheld den (in den fünfziger Jahren vielfach noch anstößigen, weil mit dem Sieger von El Alamein assoziierten) Namen Montgomery Cassini-Stahl. Er verfolgt als Lebensprojekt ausgerechnet die Neuverfilmung der Lebensgeschichte des Juden Joseph Süß Oppenheimer – ein Sujet, das bekanntlich Sprengstoff in sich birgt, haben doch die Nationalsozialisten diese Persönlichkeit als Projektionsfläche ihres antisemitischen Hasses mißbraucht. Daneben kommen Liebesgeschichten und Familienhader nicht zu kurz. Die Problematik offenbart abermals einen christlichen Hintergrund: die Erlösung von Schuld, besonders der vom Nationalsozialismus ausgelösten.

Im Roman „Blumenberg“ (2011) steht der von Lewitscharoff verehrte Münsteraner Philosoph im Vordergrund. Allerdings wird nicht dessen Schrifttum erörtert; vielmehr taucht ein Löwe auf. An diesem Beispiel thematisiert Lewitscharoff das Wechselspiel von Anwesenheit und Abwesenheit. Dieses ist wie manches bei der Autorin nicht leicht zu durchschauen.

Streifzüge durch Bibel und Koran

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft wird besonders in dem Roman „Apostoloff“ deutlich, ein „Vaterhaß-Buch“ (Sigrid Löffler), das 2009 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Die Erzählerin reist nach dem Umbruch von 1989/90 mit ihrer Schwester und einigen Exil-Bulgaren in das Heimatland des Vaters. Die Distanz zu dieser fremden Welt entspricht der Entfernung vom Vater, der mit seiner Tat die Familie ins Unglück stürzte. Die Asche der Toten, mit denen rege kommuniziert wird, fährt im Gepäck mit. Der Name des Fahrers, mit dem die Schwester eine Affäre hat, spielt auf die Apostel an.

Wie bei anderen Texten der Autorin, in denen sich Religion oft surreal spiegelt, gehen Grenzen, Genres und Erzählweisen bunt durcheinander. Die schwierige Eltern-Tochter-Beziehung wird nicht ausgeklammert, obwohl Lewitscharoff der Gattung „Autobiographie“ skeptisch gegenübersteht. Nach den gängigen psychoanalytischen Lehrbeispielen kann Erzählen einen heilenden Prozeß in Gang setzen. Auch die Verfasserin will um ihr „Leben schwätzen“ – das ist heilsam genug.

Die studierte Religionswissenschaftlerin betätigt sich auch als Sachbuchautorin. Unlängst hat sie mit dem aus dem Irak stammenden islamischen Publizisten Najem Wali eine Studie auf den Markt gebracht, die Streifzüge durch Bibel und Koran präsentiert. Die Bedeutung von Grenzgängern zwischen dem christlich-jüdischen und dem islamischen Grundbuch des Glaubens wird herausgestellt: Beide Verfasser untersuchen ausführlich die Gestalten Eva, Abraham, Moses, Lot, Hiob, Jona, König Salomo, Maria sowie den Teufel und ordnen sie in die jeweilige Glaubenstradition ein. Die Person Jesu wird hingegen eher peripher behandelt.

Selten beschäftigen sich lebende Schriftsteller so intensiv mit dem die eigene Identität prägenden kulturellen Erbe. Kaum jemand schreibt wie Lewi-tscharoff: witzig, gebildet, klug, humorvoll, anspielungsreich. Mancher Rezipient fühlt sich an Jean Paul erinnert. Für Mitte Mai kündigt der Suhrkamp-Verlag ein neues Buch von ihr an, „Geisterstunde“, mit Essays zu Literatur und Kunst. Und im September soll dann ihr nächster Roman erscheinen. In „Von oben“ befragt sie laut Verlagsangaben „unsere Gottes- und Seinsvorstellung, unsere Wahrnehmung von Ich und Welt, von Leben und Sterben“.

Zuvor aber kann Sibylle Lewi-tscharoff am kommenden Dienstag (16. April) ihren 65. Geburtstag feiern.

Sibylle Lewi-tscharoff: Blumenberg. Roman. Suhrkamp, 2012, broschiert, 220 Seiten, 8,99 Euro

Sibylle Lewi-tscharoff: Vom Guten, Wahren und Schönen. Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen. Suhrkamp, 2012, broschiert, 200 Seiten, 15 Euro

Sibylle Lewi-tscharoff: Das Pfingstwunder. Roman. Suhrkamp, 2018, broschiert, 350 Seiten, 12 Euro