© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/19 / 12. April 2019

Nachdenken über EU-Europa
Festigt das Fundament!
Werner Münch

Aufgrund der nächsten Direktwahl des Europäischen Parlaments vom 23. bis 26. Mai ist die Europäische Union insgesamt wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt. Jahrelang war die große Staatsverschuldung Griechenlands das Thema, jetzt richtet sich der Fokus stärker auf Italien, Frankreich, Spanien und vor allem auf Großbritannien und den Brexit. Der deutsch-französische Motor stottert, die Flüchtlingspolitik hat die EU tief gespalten, ihr Verhältnis zu den USA ist zerrüttet – Stichworte: Iran, Atomabkommen, INF-Vertrag, Handelspolitik, Autozölle ... –, und die Rußlandpolitik hat kein klares Ziel, weil sie von unterschiedlichen nationalen Interessen bestimmt wird.

Aus den Regierungen der Mitgliedstaaten hören wir immer wieder den Satz: „Wir müssen unsere Werte verteidigen“, ohne daß den Bürgern gesagt wird, was denn diese Werte sind. Natürlich gehören Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als große Errungenschaften auf die vordersten Plätze, aber werden sie denn überall praktiziert? Wenn es so wäre, würden dann Rumänien, Polen und Ungarn so häufig aus Brüssel ermahnt, obwohl die konkrete Politik in den genannten Ländern eine differenziertere Beurteilung erfordern würde und die Zurückhaltung gegenüber Italien nicht erklärt? Wenn wir dann noch zusätzlich zu Italien Frankreich erwähnen und die Haushalts- und Finanzpolitik dieser beiden Länder unter die Lupe nehmen, dann wird die Ungleichbehandlung der Mitgliedstaaten besonders deutlich.

Es verhält sich nicht derjenige europafreundlich, der vorhandene Probleme beschönigt oder verschweigt, sondern der, der sie kritisch benennt, weil er damit einen wichtigen Beitrag zur konstruktiven Lösung dieser

Probleme leisten will.

Der frühere Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof hat schon am 12. Juli 2012 in einem Beitrag für die FAZ zur Anwendung des Rechts durch die EU mit Verweis auf die Hilfe der Europäischen Zentralbank bei der Staatsfinanzierung und die Annäherung an eine Haftungsgemeinschaft einen elementaren Rechtsverlust der EU mit der Feststellung gegeißelt, daß heute viele bereit seien, „ein Stück des Weges in die weitere Illegalität voranzuschreiten, weil dieser Weg beachtliche Gewinne verheißt oder auch nur die Chance bietet, drohende Verluste auf andere zu verschieben“. Und er fügte hinzu: „Die Rechtsmaßstäbe weichen dem alltäglichen Kompromiß, der zum Kerngedanken der Demokratie erklärt wird.“ Eine Instabilität des Rechts wiege schwerer als eine Instabilität der Finanzen, und er schließt mit dem Mahnruf: „Integration heißt Werbung für das Recht.“

Statt dessen wird vorrangig nach „mehr Europa“ gerufen und vor „Populismus“ und der Entwicklung nach „rechts“ gewarnt, als ob diese Stichworte ohne inhaltliche Präzisierung überzeugend für „Europa“ werben könnten. Hat man in Brüssel eigentlich noch nicht gemerkt, daß sich immer mehr Bürger in der Vergangenheit deshalb von der EU abgewandt haben, weil sich ihre Institutionen mit ständig mehr Bürokratie immer mehr Kompetenzen anzumaßen versuchen, auch außerhalb von Politikfeldern, für die sie nach den Verträgen nicht zuständig sind, zum Beispiel in Fragen von Ehe und Familie und Lebensschutz?

In der Asyl- und Migrationspolitik wird eine „internationale Durchmischung“ durch Migranten von außerhalb des europäischen Kontinents im Zusammenwirken mit der Uno betrieben, die gegen die nationale Souveränität gerichtet ist. Eine Zeitlang haben die Spitzen der EU versucht, uns damit zu trösten, daß es sich in nächster Zeit lediglich um „zeitlich begrenzte Schutzgewährung“ und nicht um „dauerhafte Neuansiedlungszusagen“ handle. Zwei ausgewählte Aussagen von EU-Kommissaren belegen das Gegenteil: 

1. EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos, in der Kommission zuständig für Migration, Inneres und Bürgerschaft, ließ verlauten: „Durch die Schaffung eines dauerhaften Rahmens mit einheitlichen Verfahren können wir schnellere Verfahren gewährleisten, was uns wiederum ermöglicht, schrittweise unsere Neuansiedlungszusagen zu erhöhen“ („Verbesserung der legalen Migrationskanäle: Kommission schlägt EU-Neuansiedlungsrahmen vor“, Pressemitteilung der Europäischen Kommission, 13. Juli 2016).

2. Der Erste Vizepräsident der EU-Kommission, der Niederländer Frans Timmermans, Spitzenkandidat der europäischen Sozialisten, also auch der deutschen Sozialdemokraten für die Wahlen zum Europäischen Parlament, hat die Abgeordneten während des ersten jährlichen Grundrechte-Kolloquiums der EU am 1. Oktober 2015 ermahnt, zu akzeptieren, daß „Vielfalt“ (im englischen Original „diversity“) „Schicksal“ und „Ziel der Menschheit“ sei. Timmermans beschwor gleichsam die Parlamentarier, es werde keine Nation der Erde mehr geben, die „künftig nicht mit Vielfalt konfrontiert sein“ werde. „Vielfalt“ – und wir haben keinen Grund anzunehmen, daß mit dem Begriff nicht in erster Linie ethnische Durchmischung durch Zuwanderung gemeint ist – bringe „Herausforderungen“ mit sich, doch wer das „Recht“ auf Vielfalt ablehne, wie das „in einigen Teilen Europas“ geschehe, der mache, daß unser Kontinent „kein Ort des Friedens und der Freiheit“ bleibe.

Mit ihrem „Resettlement-Programm“ (Umsiedlungsprogramm) will die Kommission noch in diesem Jahr für „besonders schutzbedürftige Flüchtlinge“ einen „legalen, direkten und sicheren Weg nach Europa öffnen“, das heißt, sie will mindestens 50.000 dauerhafte Neuansiedlungsplätze für sie schaffen. Die deutsche Bundesregierung hat bereits vor längerer Zeit zugesagt, hiervon mindestens 10.000 zu übernehmen.

Deshalb wurde auch der Migrationspakt, nach Formulierung der Uno ein „Globaler Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration“, am 10. Dezember 2018 in Marrakesch (Marokko) verabschiedet, in mehreren EU-Staaten lange Zeit nicht oder überhaupt nicht diskutiert, weil es von den jeweiligen Regierungen nicht gewünscht war. Andere EU-Staaten haben ihn abgelehnt, so daß auch hier keine einmütige Entscheidung zustande kam. Die schwülstige Sprache dieses Paktes, in dem ein Bild des ausschließlich „guten Migranten“ vermittelt wird und der einige notwendige Klarheiten vermissen läßt, vermittelt in mehreren Textstellen den Eindruck, daß aus einer „illegalen eine legale Migration gemacht werden soll“ (Henryk M. Broder).

Und von Regierungsseite auf die Kritiker immer wieder mit dem Argument zu reagieren, der Vertrag sei völkerrechtlich nicht bindend, war mindestens unklug und naiv, wenn nicht sogar bewußt manipulativ von den Regierungen und zahlreichen Medien als Nebelschwaden zur Beruhigung der Öffentlichkeit verbreitet worden. Eine Unverbindlichkeit kann es vom Text her allein schon deshalb nicht geben, weil in seinen 23 Ziffern 87mal die Worte „verbindlich“ oder „Verbindlichkeit“ vorkommen. Und wenn man weiß, wie oft bei sogenanntem „soft law“ Gerichte bemüht werden, die dann mit ihren Urteilen Fakten, das heißt Rechtsnormen schaffen, dann wird die aufgezeigte Argumentation noch unglaubwürdiger.

Insgesamt bleibt der Verdacht, daß dieser Pakt das Ziel hat, Einwanderung und Bleiberecht von Migranten als ein neues Menschenrecht zu fixieren. Durch ihn jedenfalls werden einer neuen Völkerwanderung alle nationalen Tore geöffnet. Und die Verabschiedung dieses Paktes am 70. Jahrestag der Menschenrechte war natürlich kein Zufall, sondern ein gewolltes starkes Symbol.

Fragen wir nach Aufzählung dieser Probleme und Mißstände, in welchem Zustand sich die EU insgesamt befindet. Was trägt sie? Was ist ihre Identität? Gibt es noch, wie der heilige Papst Johannes Paul II. es einmal genannt hat, eine „Seele Europas“; ist Europa nach einem Wort von Romano Guardini immer noch gedacht als eine „Gesinnung“? Wir wissen, daß man dann, wenn man sich mit der EU kritisch auseinandersetzt, immer sofort Gefahr läuft, automatisch in die „rechte“ Ecke gedrängt und als europafeindlich abgestempelt zu werden. Die Vertreter dieses Rituals der Diffamierung wollen nicht zugeben, daß sich nicht derjenige europafreundlich verhält, der vorhandene Probleme nicht zur Kenntnis nimmt, sie beschönigt oder verschweigt, sondern der, der sie kritisch benennt, weil er damit einen wichtigen Beitrag zur konstruktiven Lösung dieser Probleme leisten will, was man bei mir als Mitglied des Europäischen Parlaments in der EVP-Fraktion von 1984 bis zur deutschen Einheit 1990 voraussetzen darf.

Um die Veränderungen zu verstehen, ist ein kurzer Rückblick erforderlich:

Nach den schrecklichen Ereignissen des Zweiten Weltkrieges und seinen Folgen mußte Europa aus der tiefen Krise des gegenseitigen Mißtrauens und aus dem Klima des „Kalten Krieges“ einen Neuanfang zur Befriedung des Kontinents wagen. Die zentralen Akteure im Wiederaufbau eines solchen Europas waren der Deutsche Konrad Adenauer, der Italiener Alcide De Gasperi und der Franzose Robert Schuman. In ihrem politischen Denken standen die Aussöhnung der Völker, Frieden und neues Vertrauen im Mittelpunkt. Alle drei hatten diese Vision auch als gläubige Christen mit gemeinsamen religiösen Werten und ethischen Überzeugungen. Die Neukonstruktion hatte ein christliches Fundament, ein verbindliches Ethos. Zwischen den Verantwortlichen gab es eine kongruente Sicht auf Mensch und Gesellschaft. Sie waren in ihrer christlich geprägten Werte-Überzeugung über jeden Zweifel erhaben und ein Glücksfall für die europäische Geschichte nach 1945.

Ich stelle mir kein Eu­ropa auf der Grundlage von laizistischen oder sozialistischen Konzepten vor, auch keine unklare neue politische Philosophie und ebenso keine Mißachtung oder Umdeutung bestehender Verträge je nach politischer Opportunität.

Aus der Gemeinschaft von sechs Staaten, die 1957 den EWG-Vertrag unterzeichnet haben, ist bis heute eine aus 28 Mitgliedstaaten geworden. In den mehr als 70 Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben wir eine Zeit gewaltiger Umbrüche in Europa erlebt. Deshalb ist es Zeit, einmal innezuhalten und zu fragen, wie denn ein zukünftiges Europa heute und in Zukunft aussehen könnte.

Ich stelle mir kein Europa auf der Grundlage von laizistischen oder sozialistischen Konzepten vor; keine neue politische Philosophie nach Rezepten von Visionären, die immer nur nach „mehr Europa“ rufen, ohne klar zu sagen, welche inhaltlichen Vorstellungen sie damit verbinden; keine Mißachtung oder Umdeutung bestehender Verträge je nach politischer Opportunität; keine Beschleunigung von bewußter und gewollter Migrations-Überflutung, die die äußere und innere Sicherheit der EU-Nationalstaaten noch weiter schwächen würde; keine Zerstörung von Ehe und Familie durch Gender Mainstreaming und „Ehe für alle“ und keine Mißachtung des Lebensrechts für ungeborene Kinder.

Statt dessen stelle ich mir vor: ein Europa in Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit; eine Weiterentwicklung der EU vor allem in der Außen- und Verteidigungspolitik, aber mit Soldaten und Waffen, die einsatzfähig sind; eine vertiefte Integration unter Wahrung von Subsidiarität, Solidarität und Solidität; eine Wertegemeinschaft, die sich in ihrer konkreten Politik zu ihren christlichen Wurzeln bekennt; und eine Gemeinschaft von Staaten, die auf ihre Identität, ihre „Seele“, das heißt auf ein christliches Fundament Wert legt, was bedeutet, die Achtung der Rechte und der Würde des Menschen über alles zu stellen.






Prof. Dr. Werner Münch, Jahrgang 1940, war CDU-Europaabgeordneter (1984–1990) und Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt (1991–1993). Er verließ 2009 die CDU aus Protest gegen den Kurs von Angela Merkel. Vor Beginn seiner politischen Laufbahn war Münch Rektor der Katholischen Fachhochschule Norddeutschland in Osnabrück und Vechta, später Präsident der kirchlichen Fachhochschulen in der Bundesrepublik. Heute ist Münch Kuratoriumsmitglied im Forum Deutscher Katholiken. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Islam („Keine Religion des Friedens“, JF 23/17).