© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/19 / 12. April 2019

Kurzer Frühling für den roten Vorposten
Im April 1919 erlangten in München für einige Wochen linke Räte die Macht / Wie beim sowjetischen Vorbild etablierte sich sofort eine Terrorherrschaft gegen Andersdenkende
Karlheinz Weißmann

Die Begriffe „Rat“ und „Räterepublik“ übten in den Jahren 1918 und 1919 eine starke Anziehungskraft auf die kollektive Phantasie aus. Selbst ein Konservativer konnte äußern, daß eine „veredelte Räterepublik (…) besser als ein verlottertes Kaiserreich“ sei. Viele hielten es in den turbulenten Monaten der ersten Nachkriegszeit für denkbar, das Ideal der Demokratie tatsächlich und ohne Kompromisse umzusetzen. In direkter Wahl sollte das Volk – oder genauer gesagt: der fortschrittliche und bis dahin von der Macht ausgeschlossene Teil des Volkes in Gestalt der Arbeiter und Soldaten, vielleicht auch der Bauern – Vertreter wählen. 

Die Räte wären aber nicht Repräsentanten wie in einem Parlament, sondern blieben qua „imperativem Mandat“ an den Willen der Wähler gebunden. Wer nicht tat, was er bei der Kandidatur versprochen hatte, sollte wieder abberufen werden. In gestaffeltem Aufbau konnte man sich ein System vorstellen, bei dem die Räte auf lokaler die auf regionaler Ebene wählten, die dann über die Zusammensetzung eines Rates auf nationaler Ebene entschieden, der die oberste exekutive, legislative und judikative Funktion in sich vereinigte.

Soweit ist es nie gekommen, auch und gerade nicht in der 1918 gegründeten russischen Sowjetrepublik. Das russische Wort „Sowjet“ bedeutet nichts anderes als Rat, und schon in der Revolution von 1905 hatte man so ad hoc gebildete Gremien der Arbeiter bezeichnet. Allerdings war deren Funktionsfähigkeit von Anfang an gering. Die Wahlen liefen unter chaotischen Bedingungen ab, die Verweildauer der Ratsmitglieder war kurz, oft genug hatte man Kandidaten bestimmt, die für ein Amt überhaupt nicht taugten. 

Diese Situation konnte eine disziplinierte Kaderpartei wie die Bolschewiki unschwer zu ihrem Vorteil nutzen und die 1917 neu erstandenen Sowjets unter Wahrung des Anscheins basisdemokratischer Prinzipien in ein Instrument ihrer Machtergreifung verwandeln. Für die radikale Linke in aller Welt war dieser Schönheitsfehler allerdings kaum von Bedeutung. Sie sah in der Räteverfassung das Mittel zur Schaffung eines sozialistischen Gemeinwesens. So auch in Deutschland, wo sich während des Zusammenbruchs der alten Ordnung zuerst in der Armee Soldaten- und dann in den Industriezentren Arbeiterräte gebildet hatten. Deren Machtanspruch war aber nur für einen kurzen Zeitraum durchsetzbar. Rasch lief ein gegenläufiger Prozeß ab, der schon im Januar 1919 mit der Wahl der Nationalversammlung den Umbau des Reiches in eine Räterepublik aussichtslos wirken lassen mußte.

Am Vorbild der Bolschewiki in Rußland ausgerichtet

Nicht so in Bayern. Ausgerechnet hier war die Monarchie der populären Wittelsbacher schon zwei Tage vor der preußisch-deutschen gestürzt worden. Kurt Eisner, USPD-Mitglied, Journalist und bekannter Schwabinger Bohemien, hatte bereits am 7. November 1918 einen „freien Volksstaat Bayern“ ausgerufen, ohne auf Widerstand zu treffen. Der letzte König, Ludwig III., verschwand aus seiner Residenz, eine Zigarrenkiste unter den Arm geklemmt. Später bemerkte Eisner spöttisch, die Revolution habe ihn nur achtzehn Reichsmark gekostet, das Geld, das er während der großen Volksversammlungen auf den Münchner Plätzen und in den Lokalen bei sich trug und das er für Freibier ausgab, um die Anwesenden bei Laune zu halten. Im nächsten Vierteljahr fungierte Eisner als Ministerpräsident, war der von ihm selbst heraufbeschworenen Situation aber nie gewachsen. Er befand sich im Dauerkonflikt mit der Reichsregierung, die seine Eigenmächtigkeiten und separatistischen Tendenzen zu unterbinden suchte, während gleichzeitig die Streitigkeiten zwischen verschiedenen linken Fraktionen der Stadt – darunter eine zahlenmäßig schwache, aber aggressive anarchistische Minderheit – außer Kontrolle gerieten. 

Zuletzt sah Eisner keine andere Möglichkeit, als Neuwahlen auszuschreiben. Die KPD verweigerte wie bei den Wahlen zur Nationalversammlung die Teilnahme, und Eisners USPD erhielt lediglich 2,5 Prozent der Stimmen. Der daraufhin von den Anarchisten unter Führung von Gustav Landauer und Erich Mühsam unternommene Versuch, dieses Ergebnis zu übergehen und eine Räterepublik zu errichten, scheiterte im ersten Anlauf. Erst nach der Ermordung Eisners am 21. Februar 1919 glaubte die äußerste Linke einen zweiten Versuch wagen zu können. Sie nutzte die unübersichtliche Lage in München und bildete den „Vereinigten Revolutionären Zentralrat der Bayerischen Republik“, dem Vertreter von MSPD, USPD und KPD angehörten.

Dieser Zentralrat konnte sich zwar auch nicht auf eine gemeinsame Linie verständigen, übte aber erheblichen Druck auf die vom Landtag bestimmte Minderheitsregierung unter Führung Johannes Hoffmanns (MSPD) aus. Währenddessen verlangte eine Gruppe um Mühsam, den Schriftsteller Ernst Toller, den ehemaligen Lehrer Ernst Niekisch und drei aus Rußland stammende Berufsrevolutionäre, Max Levien, Eugen Leviné und Tobias Axelrod, offen die Errichtung der Diktatur des Proletariats und ein Bündnis mit Sowjetrußland. Ihre Anhänger zogen durch die Straßen Münchens, um wirkliche oder vermeintliche Konterrevolutionäre einzuschüchtern, requirierten, was ihnen gefiel, und plünderten die Villen in den vornehmen Vierteln der Stadt.

Schließlich proklamierte man am 7. April die „Räterepublik von Bayern“, an deren Spitze ein „Provisorischer Rat der Volksbeauftragten“ trat, dessen Vorsitz Niekisch und Toller übernahmen. Hoffmann mußte überstürzt nach Bamberg fliehen und – wenngleich widerstrebend – die Reichsregierung um Hilfe bitten. Die folgende Woche war von zunehmendem Chaos gekennzeichnet, und der Versuch der republikanischen Kräfte, die verfassungsmäßige Ordnung mit dem sogenannten „Palmsonntagputsch“ wiederherzustellen, scheiterte nur am Widerstand der Kommunisten um Leviné, Levien, Axelrod und Rudolf Egelhofer, einen ehemaligen Matrosen, der schon an der Meuterei in Kiel beteiligt gewesen war. 

Diese vier betrachteten sich im Grunde als deutsche Bolschewiki und hatten bisher aus reinem Kalkül Zurückhaltung geübt. Jetzt sahen sie ihre Stunde gekommen, um eine „echte“, also am Vorbild Rußlands ausgerichtete Räterepublik zu schaffen. Dementsprechend begann man mit Repressalien gegen politische Gegner, der Beschlagnahme von Privateigentum und Zwangsbewirtschaftung sowie dem Aufbau einer „Roten Armee“ unter Führung Egelhofers, deren Kampfstärke auf bis zu 60.000 Mann geschätzt wurde und die auch Verbände aus russischen Kriegsgefangenen umfaßte. Wer sich wie Toller im Rat gegen den neuen Kurs stellte, wurde beiseite gedrängt, Tollers Protest gegen die Geiselnahme von Mitgliedern der Oberschicht blieb so zwecklos wie sein Versuch, deren Ermordung zu verhindern. Die Kommunisten ahmten nur nach, was Lenin vorexerziert hatte, als er den „Roten Terror“ befahl.

Die folgende Solidaritätserklärung der russischen Revolutionsregierung an die Münchner Genossen hatte ohne Zweifel eine stimulierende Wirkung auf deren Entschlossenheit, die Revolution voranzutreiben. Wichtig war aber auch die Vorstellung, daß es gelingen könnte, im Süden Deutschlands, über Österreich hinweg bis nach Ungarn eine Art sowjetischen Block als Vorposten der Weltrevolution zu schaffen. Denn in Wien waren die Machtverhältnisse ungeklärt, und in Ungarn hatte Béla Kun die Räterepublik ausgerufen. 

Münchner erleichtert über Ende der Räte-Herrschaft

Kun war in seiner Zeit in russischer Kriegsgefangenschaft zum Kommunismus bekehrt worden. Er hatte in Ungarn nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie eine Räterepublik errichtet, zuerst im Bündnis mit den Sozialisten, dann allein gestützt auf die ungarische KP. Da das Land von außen durch rumänische, tschechoslowakische und jugoslawische Truppen bedrängt wurde, die unter dem Schutz der Entente massive Gebietsansprüche gegen das besiegte Ungarn erhoben, gelang es Kun vorübergehend, sein innenpolitisches Programm – Verschärfung des Klassenkampfes, Enteignungen, Ausschaltung politischer Konkurrenten – zu decken, indem er den Eindruck erweckte, daß seine Rote Armee einen nationalen Verteidigungskrieg führte. Aber schon vor dem militärischen Zusammenbruch im August 1919, als rumänische Einheiten Budapest besetzten, zeigte sich, daß das blutige Regime Kuns, das mehrere hundert Tote forderte, keinen Rückhalt mehr in der Bevölkerung fand.

Eine ähnliche Entwicklung hatte da in München der Räteherrschaft längst ein Ende bereitet. Die Stadtbevölkerung war der Unsicherheit, der Verwahrlosung und des immer rabiateren Vorgehens der Kommunisten müde geworden und erwartete den Anmarsch der Regierungstruppen hoffnungsvoll. Daß Axelrod und Levien aus der von den Verbänden Hoffmanns eingeschlossenen Stadt flohen, aber vorher noch an Egelhofer den Befehl zur Exekution der Geiseln erteilt hatten – zehn von ihnen wurden erschossen –, erhöhte nur den Abscheu. 

Als die Verbände Hoffmanns, darunter zahlreiche Freikorps, München am 1. Mai 1919 besetzten, reagierte man allseits mit Erleichterung, wenn nicht mit Freude. Ebenso wie die Rote Armee der Räteregierung folgten auch die Freikorps der Praxis, keine Gefangenen zu machen. So fielen ihnen Egelhofer und Landauer zum Opfer, während Leviné nach einem Prozeß zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde; Mühsam und Toller mußten lange Haftstrafen verbüßen, Levien und Axelrod gelang es tatsächlich zu entkommen.

Was folgte, waren die üblichen Säuberungen, bei denen immer wieder Unschuldige ums Leben kamen. Unter den 719 Toten, die die bayerische Revolution zwischen dem 7. Januar und dem 14. Juni 1919 forderte, befanden sich 121 Soldaten der Regierungstruppen und 380 Rotarmisten, die zehn Geiseln, von denen die Rede war, aber auch zwölf Arbeiter und 58 ehemalige russische Kriegsgefangene, die sich an den Kämpfen nicht beteiligt hatten, dazu 21 Mitglieder eines katholischen Gesellenvereins, die man voreilig als „Spartakisten“ beschuldigt und ohne Zögern erschossen hatte. Solche Übergriffe lösten in der Bevölkerung Unmut aus, aber grundsätzlich stand sie nach dem „Räte-Frühjahr“ 1919 den „Weißen“ mit Wohlwollen gegenüber. Auch das war ein Faktor, der München in den Ruf einer „Ordnungszelle“ brachte, geeignet als Ausgangspunkt für eine Gegenrevolution, die alles beseitigen sollte, was in den revolutionären Monaten 1918/19 geschaffen worden war.