© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/19 / 12. April 2019

Hoffnungen und Mißverständnisse
Thomas Biebricher über den bundesdeutschen Konservatismus und die „geistig-moralische Wende“
Eberhard Straub

Unsere Parteien werden immer noch nach Richtungen begriffen – links, rechts, liberal, sozialistisch, sozial oder konservativ –, die sich während der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution vor zweihundert und mehr Jahren entwickelten. Diese Bezeichnungen haben längst ihre Substanz eingebüßt. Es handelt sich bei ihnen vorzugsweise um redensartliche Wendungen. Denn in unseren nachbürgerlichen und nachproletarischen Zeiten fehlen die soziologischen Voraussetzungen für Gruppierungen, die ihre bestimmten Interessen einst weltanschaulich überhöhten. Insofern muß eine Erschöpfung des deutschen Konservatismus, die der Frankfurter Politologe Thomas Biebricher in seinem Buch „Geistig-moralische Wende“ ankündigt, nicht weiter überraschen. Der klassische deutsche Konservatismus hatte seine große Zeit bereits nach dem Ersten Weltkrieg hinter sich, er endete spätestens 1945. Er war ein historisches Phänomen, ein Thema für Doktorarbeiten, die kein Parteipolitiker las. 

Die CDU/CSU wurde allerdings von  Sozialdemokraten, die sich kaum noch von ihrem Konkurrenten unterschieden, zuweilen auch von Freien Demokraten, als rechts oder konservativ apostrophiert, um den Wählern zu suggerieren, es gäbe tatsächlich noch eine Wahl zwischen sehr verschiedenen politischen Programmen. In Konsensdemokratien wie der Bundesrepublik oder Österreich störte Opposition. Verdrossen beobachtete Otto Kirchheimer, ein ehedem linker Schüler Carl Schmitts, daß die beiden großen Parteien in den fünfziger Jahren danach strebten „Volksparteien“, „catch-all-parties“ wie in den USA, zu werden, die jeden offenen Wettbewerb entbehrlich machten. 

Ohnehin ist „Volkspartei“ ein begrifflicher Unsinn, weil ein Teil, und das ist jede Partei, nicht ein Ganzes, also ein Volk, das mehr ist als die Summe seiner Teile, vertreten oder gar repräsentieren kann. Otto Kirchheimer, ein illusionsloser Kritiker der frühen Bundesrepublik und Österreichs, verweigerte sich dem damals zum Brauch gewordenen akademischen Spiel, Begriffe statt Schiffe zu versenken wie frühere Gymnasiasten. Begriffe sorgen für Mißverständnisse. Daran hält sich – politisch und akademisch korrekt – Thomas Biebricher und  vermeidet gewissenhaft jede strenge Begrifflichkeit. 

In der Politik unter aufgeklärten Demokraten geht es schließlich um Stimmung und Zustimmung zu dem charismatischen Führer, jetzt Zukunftsgestalter genannt, der Frustrationen abbaut und Hoffnungen bündelt und allen noch Willensschwachen Mut macht, ihr Wollen mit dem Willen aller zu versöhnen. Ein bißchen konservativ schadet dabei nie, genausowenig wie ein bißchen liberal, ein bißchen sozial, ein bißchen christlich, ein bißchen populistisch und ein bißchen elitär. Für den politischen Geschmack ist die reizvolle Mischung solch wohldosierter Gewürze köstlich und willkommen. Unter solchen Bedingungen bedarf es keiner näheren Bestimmung von Thomas Biebricher, weshalb die CDU einmal wenigstens ein bißchen konservativ gewesen war. Das wird einfach vorausgesetzt. Konrad Adenauer, Heinrich von Brentano, Kurt Georg Kiesinger und Franz Josef Strauß glichen einander als Pragmatiker, die Prinzipien so hoch hielten, daß sie bequem darunter durchlaufen konnten. Konservativ waren sie nie. Der einzige, der sich Prinzipien unterordnete, war Ludwig Erhard. Er scheiterte, aber nicht als Konservativer, sondern als Ordoliberaler. 

Von ihm ist bei Thomas Biebricher gar nicht die Rede, obschon der Frankfurter Politologe in der Moralisierung des Sparens unter CDU-Politikern, Schulden und sittliche Schuld miteinander zu verbinden, ein konservativ-kulturprotestantisches Erbe erkennen möchte, noch unter Angela Merkel nicht ganz vergessen. Ludwig Erhard, der Verfechter einer sozialen Marktwirtschaft, war ein national-liberaler Kulturprotestant, der öffentlich mißbilligte, wie „Gefälligkeitsdemokraten“ vom Schlage des katholischen Adenauers den Staat in Schulden stürzten, um Wähler und Wahlen zu gewinnen. Aber Ludwig Erhard argumentierte nicht als Protestant, sondern als Liberaler, der wußte, daß Freiheit Ordnung braucht und haushälterische Unordnung die Freiheit in höchste Bedrängnisse zu bringen vermag. 

Die CDU schmiegte sich schon immer jeder Mode an

Ludwig Erhard, gerade kein Konservativer, da Freiheit und Ordnung, Recht und Rechtsstaatlichkeit liberale Postulate waren, warnte vergeblich vor den Populisten. Die vermutete er nicht rechts von der CDU, wie jetzt Thomas Biebricher, sondern mitten in dieser leichtsinnig wirtschaftenden und argumentierenden „Volkspartei“, in der er ein Fremder blieb, sofern er ihr je beigetreten war. Denn er achtete immer auf die liberale Devise, daß Parteien und der ihnen als Regierung vorübergehend treuhänderisch anvertraute Staat nicht als Verschwender Steuergelder für ihre Ziele und Vorteile mißbrauchen dürften, die sie mit dem Volkswohl und dem praktisch-sittlichen Wohlstand für alle verwechselten. 

Thomas Biebricher möchte eine nach und nach konservativ entkernte CDU dazu überreden, sich wieder auf einen respektablen Konservatismus zu besinnen, um einen despektierlichen Rechtspopulismus, wie er sich in der AfD manifestiere, erfolgreich widerlegen zu können.  Doch ein despektierlicher Populismus charakterisierte die CDU/CSU von vornherein, deswegen konnte sie sich als Erfolgs- und Regierungspartei bis heute behaupten. Sie gab allen Tendenzen nach, schmiegte sich jeder Mode an, um populär zu bleiben, also mehrheitsfähig zu sein. Ein begrifflich klarer Jurist wie Ernst Forsthoff stellte in seiner Analyse  der inneren Verfassung der Bundesrepublik 1976 fest, daß dieser Staat, der gar keiner sein will, „außerstande ist, sich als eine geistig-politische Potenz zu artikulieren. In diesem Sinne hat man noch kein Argument von seiner Seite vernommen, und die Wahrheit ist, daß er keines hat.“ Die mangelnde geistige Legitimation dieses politischen Großbetriebes Westdeutschland mit seinen späteren ostelbischen Filialen, der jedem das Seine und noch ein bißchen mehr gewährt, beunruhigte zuweilen manche, die nicht damit zufrieden waren, an ihrem Büschel Wohlstand wie glückliche Kühe zu kauen. 

Auch in der CDU als einem etwas unübersichtlichen Gemischtwarenladen hielten es einige für angebracht, sich dem unzuverlässigen Bruder Zeitgeist anzunähern und von einer geistigen und moralischen Wende ab 1980 zu schwärmen. Aber mit solchen Absichten ließen sich keine Kanzlermehrheiten erringen. Und auf den Kanzler kommt es an! Also blieb es bei sehr unverbindlichen historisch-politischen Schattenbeschwörungen. Nicht der Konservatismus hat sich in der CDU erschöpft, sondern ihr dauernder Opportunismus, sich überall populär zu machen. Das verwechselt Biebricher. Die „catch-all-parties“ und die Konsensdemokratie der etablierten Gefälligkeitsdemokraten haben sich überlebt.

Thomas Biebricher: Geistigmoralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019, gebunden, 317 Seiten, 28 Euro