© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/19 / 12. April 2019

Keine grüne Herzensangelegenheit
Nachbarn von Windparks bilden sich ihre Gesundheitsschäden nicht ein / Medizinforschung für Infraschall
Georg Stürtz

China ist laut dem Joint Research Centre (JRC) der EU-Kommission mit 10.877,2 Megatonnen „fossilem“ CO2-Ausstoß jährlich der weltgrößte „Klimasünder“. Das sind 29,3 Prozent der 37.077,4 Megatonnen schweren anthropogenen CO2-Weltemissionen des Jahres 2017. Die USA kamen auf 5.107,4 Megatonnen (13,8 Prozent). Deuschland landete mit 796,5 Megatonnen (2,1 Prozent) nur auf Rang sechs – knapp vor dem weltweiten Schiffsverkehr (677,2), Südkorea (673,3) und dem Iran (671,4).

Das unterschätzte „Wind Turbine Syndrome“

Mit 29.844 Anlagen und 56.154 Megawatt installierter Leistung war Deutschland – nach China und den USA – aber immerhin der drittgrößte Windkraftbetreiber der Welt. Bei der Erforschung der Gesundheitsrisiken ihrer Windräder belegen die drei Länder nur hintere Plätze: Mediziner aus dem Reich der Mitte steuerten zum Problem bislang nur eine, ihre deutschen Kollegen zwei Studien bei. Soviel zum Thema unabhängige, objektive Wissenschaft, für die mittlerweile diverse „Marches for Science“ gegen „wissenschaftsfeindliche Populisten“ organisiert werden.

In Neuseeland und Australien hingegen, wo weit weniger Windparks stehen als in China, den USA und Deutschland, haben Untersuchungen über körperliche und seelische Auswirkungen von Infraschall Konjunktur. Wie Martina Lenzen-Schulte und Maren Schenk berichten (Deutsches Ärzteblatt, 6/19), veröffentlichten australische Forscher um Simon Carlile und John Davy im Fachmagazin Trends in Hearing eine Studie, die Argumente für negative somatische Effekte von Infraschall aufzeigt. Der Schall, den das menschliche Ohr normalerweise nicht hört, weil seine Frequenz unterhalb von 20 Hertz liegt, verursacht gleichwohl bei einer wachsenden Zahl von Windparknachbarn Beschwerden.

Das Spektrum gesundheitlicher Probleme reicht dabei von Kopfschmerzen, Atemlosigkeit und Schlaflosigkeit bis zu Depressionen, Seh- und Hörstörungen. Von denen man offiziell nicht gern Notiz nimmt, denn in der aktuellen deutschen Liste der Berufskrankheiten sind Gesundheitsschäden durch Infraschall nicht aufgeführt. Mit der Begründung, daß die Forschung dazu keine „validen Daten“ ermittelt habe. Ein Blick an die Universität Auckland lehrt, das Phänomen etwas komplexer wahrzunehmen. Dort fragte ein Team um den klinischen Psychologen Keith J. Petrie danach, ob nicht schon ungute Erwartungen angesichts eines benachbarten Windrads das Krankheitsempfinden steigern, die Störungen also womöglich Fiktionen sind.

Tatsächlich wies Petrie nach, daß sich zwischen 1993 und 2008, vor dem Erscheinen eines australischen Werkes über das „Wind Turbine Syndrome“ (2009), die wenigstens Anwohner von 51 Windparks über den Lärm der Turbinen beklagten. 90 Prozent aller Beschwerden erfolgten dann aber nach der Veröffentlichung des Buches. Negative Erwartungshaltungen, wie Petrie in weiteren Untersuchungen bestätigte, beeinflussen mithin die Symptome. Tut der deutsche Gesetzgeber darum gut daran, Infraschall-Behelligungen für die Phantomschmerzen von eingebildeten Kranken zu halten?

Nein, denn weder Petrie noch andere angelsächsische Forscher halten diesen Schluß für zwingend. Vielmehr dokumentieren Studien, wie unterschiedliche Organe auf Infraschall reagieren. So belegen Experimente von Alec Salt (Washington University School of Medicine, St. Louis), wie tiefe Frequenzen Veränderungen der Tektorialmembran im Innenohr provozieren. Ein mittelbarer Effekt von Infraschall auf das Hören sei daher „zumindest denkbar“.

Der Otolaryngologe Robert V. Harrison (Toronto) wiederum will die Resultate von Petrie nicht mit publizistisch genährten „Vorurteilen“ der Probanden gegenüber Windrädern erklären. Mit der Infraschall-Sensibiliät verhalte es sich vielmehr wie mit der Seekrankheit. Bei fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung ließen sich Anomalien im Gleichgewichtsorgan nachweisen. Diese Menschen seien daher weder seefest noch unempfindlich gegen Infraschall.

Dringender Bedarf an epidemiologischen Studien

Mittlerweile scheinen die Untersuchungen in Übersee auch deutsche Mediziner davon überzeugt zu haben, daß Infraschall ein Forschungsdesiderat ist. Erste Arbeitsgruppen an Universitätskliniken, bei denen Lenzen-Schulte und Schenk recherchierten, sind dabei, diese Lücken zu schließen. So geht die Arbeitsgruppe Neuronale Plastizität um Simone Kühn (Uniklinikum Hamburg-Eppendorf) mit Hilfe funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) der Wirkung von Infraschall auf das Gehirn nach.

Dabei führten Stimulationen nahe an der Hörschwelle in mehreren Hirnarealen zu Veränderungen: Erstens im superioren temporalen Gyrus, wo die sekundäre Hörverarbeitung stattfindet. Zweitens im anterioren cingulären Cortex, der aktiv ist, wenn Konfliktsituationen zu verarbeiten sind, und drittens in der rechten Amygdala, die für die Streßbewältigung zuständig ist. In diesem frühen Stadium der Experimente, so Kühn, lasse sich aber nicht sagen, welche Schlüsse aus den Beobachtungen zu ziehen seien. Voreilig wäre die Unterstellung, es handle sich stets um die Gesundheit negativ beeinflussende Veränderungen. Derzeit prüfe ihr Team langfristige Effekte von Infra- und Ultraschall auf das Gehirn und wolle schlicht mehr Daten erheben.

Auf etwas festerem Boden bewegt sich derweil Christian Vahl, der an der Mainzer Universitätsklinik für Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie untersucht, was die mechanische Energie des Infraschalls mit den Herzmuskelzellen macht. In einer ersten Versuchsreihe erwies sich, daß der Schall die Kontraktionskraft von Herzmuskelpräparaten um, abhängig von Frequenz und Schalldruckamplitude, bis zu 20 Prozent herabsetzt.

Gesichert sei damit die Aussage, „daß“ Infraschall auf das Herzmuskelgewebe wirke. Nicht geklärt ist, „wie“ der Schall die Muskelkraft und damit die Pumpleistung des Herzens senkt. Dafür gibt es mehrere Hypothesen. So könnte die Vibration, das Schallsignal selbst, die Interaktion der kontraktilen Proteine Aktin und Myosin stören. Oder, wie Ratten-Experimente bereits bestätigen, Infraschall könnte erhöhten oxidativen Streß auslösen. Oder er verändere die Kalziumströme in der Herzmuskulatur bis hin zur Depolarisation.

Wie in Hamburg will man auch in Mainz in Langzeitversuchen die empirische Basis der Studien verbreitern. Da nun selbst das Umweltbundesamt (UBA) Gesundheitsschäden durch kurz- und langfristige Infraschall-Expositionen „nicht länger ausschließt“, könnte eine großzügige Forschungsförderung durch die weltweite Nummer drei unter den Windparknationen den „dringenden Bedarf an epidemiologischen Studien“ vielleicht bald befriedigen.

„A Review of the Possible Perceptual and Physiological Effects of Wind Turbine Noise“, in Trends in Hearing vom 7. August 2018: doi.org/

Medizinreport „Windenergieanlagen und Infraschall – Der Schall, den man nicht hört“: www.aerzteblatt.de