© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/19 / 19. April 2019

Ländersache: Berlin
Justiz vor dem Kollaps
Paul Leonhard

Berliner Richter und Staatsanwälte sind bundesweit die unzufriedensten. Das geht aus einer Umfrage hervor. Doch wie zufrieden sind die Einwohner der Bundeshauptstadt mit den Resultaten der Strafverfolgung? Erst Mitte März hatte die Aufhebung eines Untersuchungshaftbefehls für große Aufregung gesorgt. Ein Verhandlungstermin sei nicht absehbar, so die Begründung. Der Tatverdächtige soll jahrelang Kinder sexuell mißbraucht haben.

Der Senat statte seine Gerichte nicht verfassungsgemäß aus, heißt es im entsprechenden Beschluß des 4. Senats des Berliner Kammergerichts vom 11. März 2019. Weil Berlins Regierung es nicht schaffe, mehr Justizpersonal einzustellen, sei sie schuld, wenn „infolge personeller Unterausstattung des gesamten strafrechtlichen Bereichs des Landgerichts Berlin die überlastete Strafkammer 13 dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht genügen“ konnte.

Eine gewaltige Ohrfeige für die Regierenden, denn selten positioniere sich ein Gericht derart offen und „spricht unverblümt vom Rechtsbruch des Landes Berlin“, staunte der Tagesspiegel. Der Fall des mutmaßlichen Kinderschänders ist keine Ausnahme. „Der aktuelle Fall ist nicht der erste Weckruf für die Landespolitik“, erinnerte Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes. „Die Strafgerichte und Staatsanwaltschaften in Berlin arbeiten seit Jahren am Anschlag.“ 

Was ist aber aus den 20 Strafkammern am Landgericht geworden, die doch seit 2017 eröffnet wurden, wie Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) Anfang 2018 mitteilte: 16 davon seien bereits besetzt, die vier übrigen sollten noch im Laufe des Jahres besetzt werden.

Potemkinsche Dörfer, ätzt der Tagesspiegel. Von den sechs neuen Strafkammern, die seit 2018 geschaffen wurden, seien zumindest drei nicht existent. Für die Kammern gebe es keine Richter, keine Geschäftsstellen, keine Dienstzimmer und keine Säle, zitiert die Zeitung einen Richter des Landgerichts. Weitere Richter und ein Staatsanwalt hätten diese Schilderung bestätigt. Auch im Geschäftsverteilungsplan des Gerichts ist nachzulesen, daß viele Stellen nicht besetzt sind. Selbst bei den real existierenden Kammern seien viele personell längerfristig unterbesetzt, weil es zu wenig Richter gebe.

Bereits 2015 hatte das Präsidium des Landgerichts die „desaströse Ausstattung“ beklagt und von „Notlösungen“ gesprochen, wenn es um den Einsatz der wenigen Richter geht. Im September 2017 legte das Landgerichtspräsidium in einem Schreiben an den Jusizsenator noch einmal nach: 17 von 21 allgemeinen großen Strafkammern seien von der turnusmäßigen Verteilung neu eingehender Haftverfahren ausgenommen worden, da sie bereits überlastet waren.

Seine Kammer habe seit fünf Jahren keine einzige Nicht-Haftsache mehr verhandelt, wird ein erfahrener Strafrechtler zitiert. Obwohl eine Straferwartung von mindestens vier Jahren im Raume stehe, könnten diese Straftaten, egal ob es Betrug, Kindesmißbrauch, Vergewaltigung oder Raub sei, nur verfristet werden. „Die Straftaten werden ungesühnt bleiben und verjähren. Das ist rechtsstaatswidrig“, so der Jurist: „Ich sage meinen Bekannten immer, ihr könnt ruhig Straftaten begehen, ihr habt nichts zu befürchten.“