© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/19 / 19. April 2019

Der Pulsschlag sinkt
Zu Besuch in Rom: In der Ewigen Stadt werden zwei Jahrhunderte Geschichte sinnlich erfahrbar
Thorsten Hinz

Um einige der Prachträume im römischen Palazzo Farnese zu besichtigen, muß man sich vorab unter Angabe der Ausweisnummer anmelden, denn das Gebäude beherbergt die französische Botschaft. Der Renaissance-Rahmen ist mehr als standesgemäß, geradezu majestätisch. So sehr man sich über die Politik der Franzosen und Italiener mitunter ärgert, muß man doch zugeben, daß ihre Politiker – anders als die deutschen – von keiner „Häresie der Formlosigkeit“ (Martin Mosebach) befallen sind.

Der einzige noch freie Besichtigungstermin erweist sich als Glücksfall, denn vor der Einlaßkontrolle reiht sich direkt hinter dem Besucher der zur Zeit feinsinnigste deutsche Rom-Reisende ein, der sogleich in drei Sätzen zusammenfaßt, wofür der weniger Wortgewandte seit Tagen nach dem passenden Ausdruck gesucht hat: „Wieviel in Rom schon gescheitert ist. Und trotzdem ist die Stadt noch immer da. Und wie schön sie ist.“ 

Ja, das ist sie, und laut und anstrengend ist sie obendrein. Nach der Diesel- und Feinstaubbelastung frage man lieber nicht, und die ampellose Straße zum Kapitol zu überschreiten bleibt ein Abenteuer, obwohl man sich auf die Rücksicht der Autofahrer verlassen kann. Trotz aller Hektik legt sich schnell eine große Ruhe über den Besucher, seine emotionale Pulsfrequenz sinkt, weil alles abfällt, was ihn zu Hause so überaus dringlich beschäftigt hat. Die Enthüllung, daß die Gefährlichkeit der Identitären Bewegung die des IS übersteigt; die Exegese von Klein-Gretas Orakel-Sprüchen; die Schnapsidee, daß der deutschen Frau keine Kinder mehr zustünden von wegen der globalen Gerechtigkeit und des Platzbedarfs afrikanischer Migranten.

Woher kommt die Ruhe in der Hektik? Zum einen aus der wundersamen Anmutung der Stadt, ihrer Palazzi, Villen, Kirchen, Wohnhäuser, die – jedes für sich – in anderen Städten jeweils architektonische Höhepunkte, herausgeputzte Einzelstücke wären. Hier sind sie selbstverständliche Bestandteile des städtischen Mobiliars. Der bröckelnde Putz unterstreicht ihren Gebrauchs-charakter. Und natürlich gibt es Glanzpunkte ohne Ende. Der Palazzo Colonna ist vollgestopft mit kostbaren Bildern, Statuen, Möbeln. Im Pamphili-Palast geht es kaum weniger prächtig zu. Dagegen erscheint der Norden, aus dem man kommt, tatsächlich armselig, bilderlos! Vor der Bernini-Statue „Apollo und Daphne“ in der Villa Borghese, zitiert man, um aufkommende Neidgefühl zu unterdrücken, in Gedanken Richard Strauss’ märchensüße „Daphne“-Oper. Man kann sich leicht vorstellen, die alten Besitzer würden wiederkehren, in die Hände klatschen und den Touristenpöbel des Hauses verweisen. Tatsächlich wohnen manche der Nachkommen noch in Seitenflügeln der Paläste.

Vor dem barocken Trevi-Brunnen streicht eine Vierjährige mit graziösen Bewegungen wiederholt ihr wallendes dunkles Haar zurück: eine orientalische Anita Ekberg im Miniaturformat, die sich für die Fellini-Nachfolger in Pose wirft, sehr zum Entzücken ihrer Kopftuchmutti und des Vaters, der von ihr Fotos schießt. Ob sie ihr Haar später ebenfalls unter einem Kopftuch verstecken wird?

Laut Friedrich Schiller verbinden der Stoff- und Formtrieb, die Sinnlichkeit und Geist, sich im Spieltrieb zu vollendeter Harmonie, die ihren Ausdruck in der Kunst findet, die wiederum der Vorschein der idealen, befriedeten Gesellschaft ist. An diesen Traum der deutsche Klassik glaubt heute niemand mehr. Eher gehorcht man der romantischen Ironie, genießt das Schöne und wehrt sich gleichzeitig gegen die tausendfach vorgefertigten Empfindungen, indem man sich ermahnt: Glotz nicht so romantisch!

Was den Rom-Besucher der Gegenwart erhebt, ist nicht allein das Schöne. Die Wirkung entsteht erst durch seine Verbindung mit der Geschichtlichkeit. Was man sonst Büchern entnimmt, wird in den Bauten und auf den Plätzen, die über die Jahrhunderte ihr Antlitz bewahrt haben, sinnlich greifbar. Gelernten DDR-Bürgern beschert das vereinte Deutschland in immer kürzeren Abständen Déjà-vu-Erlebnisse. In Rom relativiert sich der Erfahrungs- und Wissensvorsprung, den sie deshalb zu besitzen meinen, gründlich. Ihre Déjà-vus erweisen sich als eine x-te Wiederholung und Teil eines sehr viel größeren Zusammenhangs oder Kreislaufs.

Im Innern der Mauer, die vom Vatikan zur Engelsburg, dem Mausoleum römischer Kaiser und der Fluchtburg von Päpsten, führt, befindet sich der Passetto di Borgo, ein 800 Meter langer Fluchtgang, durch den Clemens VII. sich beim Sacco di Roma 1527 vor den Soldaten von Kaiser Karl V. rettete. Über mehrere Tage wurde in Rom geplündert und gemordet, 90 Prozent der Kunstwerke sollen damals geraubt oder zerstört worden sein. Die Journalistin Margret Boveri notierte in ihrem „Berliner Tagebuch“ über die Plünderungen und Vergewaltigungen durch die Rote Armee, „von diesem Mai 1945 wird man einmal erzählen wie vom Sacco die Roma“. Diese Erzählung steht freilich noch aus. Und einiges spricht dafür, daß sie bereits von einer künftigen überlagert wird, deren Umrisse Jean Raspail in seinem Buch „Das Heerlager der Heiligen“ skizziert hat.

An der Stelle des Campo de’ Fiori, wo der italienische Dominikaner-Priester und Philosoph Giordano Bruno im Februar 1600 wegen Ketzerei auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, befindet sich heute ein Denkmal. Viel hat sich seit jener Zeit gar nicht verändert. Die Heilige Inquisition, die unerbittlich verteidigten Dogmen, die dienstbaren Geister und die gaffende Meute haben lediglich den Namen gewechselt und ihre Methoden dem technischen Fortschritt angepaßt.

Um Gemälde von Caravaggio zu betrachten, muß man nicht einmal die Hemm- und Bezahlschwelle eines Museums überschreiten. In der Kirche San Luigi dei Francesi hängen die großformatige „Berufung des  Hl. Matthäus “ und „Das Martyrium des Hl. Matthäus“, beide um 1599/1600 entstanden. Auf dem zweiten Bild hat der halbnackte Mörder den Apostel auf den Stufen eines christlichen Altars zu Boden geworfen und wird ihm sogleich den Todesstreich versetzen. Auf dem Gesicht des Matthäus zeichnet sich Ergriffenheit statt Todesfurcht ab, denn ein Engel reicht ihm die Märtyrerpalme. Man denkt an den alten katholischen Pfarrer von Saint-Étienne-du-Rouvray in der Normandie, dem 2016 zwei Islamisten während der Messe die Kehle durchschnitten. Bevor er starb, sagte er zweimal: „Weg mit dir, Satan!“

Aufmerksame Spaziergänger stoßen in Rom auch auf Stolpersteine. Was in Berlin der Versuch ist, die Hauptstadt und das Land auf den dunkelsten Zeitabschnitt ihrer Nahgeschichte festzulegen, ist hier das Eingedenken individuell erfahrenen Leids. Der Unterschied ergibt sich aus der überwältigenden Präsenz der Ferngeschichte. Würde man das Stelenfeld des Holocaust-Mahnmals – die in den Staub gedrückte Berliner Stadtkrone – neben die 2.000 Jahre alten Ruinen, Tempel, Bögen, abgebrochenen Säulen und Mauerreste des Forum Romanum plazieren, es würde umgehend auf eine periphere, stümperhafte Kunstaktion schrumpfen.

Die Einsicht in die Natürlichkeit des Scheiterns in der Geschichte beruhigt den eigenen Pulsschlag. Die Löwen, wußte Gottfried Benn, bleiben auch im Wüstensand bestehen. Ein Besuch in Rom beweist es.