© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/19 / 19. April 2019

Die Angst der Ideologen vor der Wirklichkeit
Seht, da ist der Mensch!
Sebastian Moll

Mit dem Begriff „Anthropophobie“ beschreiben Psychologen für gewöhnlich eine neurotische Angst vor dem Umgang mit anderen Menschen, also eine soziale Angststörung. Es gibt aber noch eine tiefergehende Anthropophobie, nämlich die Angst vor dem Menschen an sich. Diese Form der Angststörung führt bei den Betroffenen dazu, daß sie die Menschen nicht als das akzeptieren können, was sie sind. Hiervon zu unterscheiden ist die Misanthropie. Der Misanthrop kann zwar mit den Menschen ebenfalls wenig anfangen, findet sich aber damit ab und geht nicht davon aus, den Menschen als Spezies ändern zu können. Der Anthrophobiker hingegen neigt dazu, den Menschen durch die richtigen Maßnahmen bessern zu wollen. Deshalb werden Anthropophobiker nahezu zwangsläufig zu Ideologen. Ob Sozialismus, Pazifismus, Multikulturalismus – sie alle verkennen die Natur des Menschen und versuchen ihn nach ihren verdrehten Idealen neu zu formen.

In unserer heutigen Gesellschaft sind es vor allem vier menschliche Eigenschaften, die unter Anthropophobie Leidende nicht akzeptieren können: Der Mensch ist ein biologisches, ein religiöses, ein egoistisches und ein diskriminierendes Wesen.

1. Der Mensch ist ein biologisches Wesen. Kaum ein Umstand ist so offensichtlich, kaum einer wird mehr geleugnet. Zur biologischen Existenz des Menschen gehört unter anderem seine Geschlechtlichkeit. Wie jedes andere Säugetier auf dieser Erde ist die menschliche Spezies in männliche und weibliche Exemplare aufgeteilt. Diese Dualität ist ein grundlegender Baustein der Natur, ebenso wie die gegensätzliche Anziehung der beiden Geschlechter. Daß es innerhalb der natürlichen Ordnung stets auch Abweichungen gibt, bestreitet niemand, doch kann ebenso niemand bestreiten, daß diese Abweichungen dem Fortbestand der Spezies nicht förderlich sind und somit einem allen Leben ureigenen Interesse zuwiderlaufen.

Daß die menschliche Spezies überdies in unterschiedliche Rassen aufgeteilt ist, kann ebenfalls niemandem entgehen, der mit offenen Augen durch die Welt schreitet. Wer also T-Shirts trägt mit der Aufschrift „Meine Rasse: Mensch“ sollte lieber im Biologieunterricht aufpassen, statt auf Klimademonstrationen zu gehen. Die Kategorie „Mensch“ ist eine Spezies oder Art, Rasse ist eine weitere Unterteilung, wenngleich eine ungenaue. Selbstverständlich ist der Begriff aufgrund unserer Geschichte belastet, doch wie Sebastian Haffner einmal so treffend formulierte: „Daß Hitler falsch gerechnet hat, schafft die Zahlen nicht ab.“

Der Mensch ist ein religiöses Wesen. Der Untergang der Religion ist im Laufe der letzten Jahrhunderte schon oft prophezeit worden, von Aufklärung und Wissenschaft, von gottlosen politischen Systemen. Gestimmt haben diese Prognosen bekanntlich noch nie.

Nicht zuletzt gehört bedauerlicherweise auch der Krieg zur natürlichen Existenz des Menschen. Hier muß man lediglich den weisen Oswald Spengler zu Wort kommen lassen, der 1936 (kurz vor seinem Tod) schrieb: „Die Frage, ob der Weltfriede je möglich sein wird, kann nur ein Kenner der Weltgeschichte beantworten. Kenner der Weltgeschichte sein heißt aber, die Menschen kennen, wie sie waren und immer sein werden […] Der Friede ist ein Wunsch, der Krieg eine Tatsache, und die Menschengeschichte hat sich nie um menschliche Wünsche und Ideale gekümmert. Das Leben ist Kampf unter Pflanzen, Tieren und Menschen, ein Kampf zwischen einzelnen, Klassen der Gesellschaft, Völkern und Staaten, ob er sich nun in wirtschaftlichen, sozialen, politischen oder militärischen Formen abspielt. Es ist ein Kampf um die Macht, seinen Willen, Vorteil oder seine Meinung vom Nützlichen oder Gerechten durchzusetzen, und wenn andre Mittel versagen, wird man immer wieder zum letzten greifen, der Gewalt.“ Der weltfremde Pazifismus hat diese Konstante des (menschlichen) Lebens nie akzeptieren können.

2. Der Mensch ist ein religiöses Wesen. Bei allen unterschiedlichen Formen von Religion und bei aller berechtigten Religionskritik muß anerkannt werden: Wo immer sich auf diesem Planeten menschliches Leben entwickelt hat, ging dies Hand in Hand mit der Entwicklung eines religiösen Bewußtseins. Der britische Evolutionsbiologe Alister Hardy (1896–1985) sprach daher vom Menschen als dem „betenden Tier“, womit er die Religiosität als entscheidendes Charakteristikum des Menschen qualifizierte.

Der Untergang der Religion ist im Laufe der letzten Jahrhunderte schon oft prophezeit worden, einerseits von seiten der Aufklärung und Wissenschaft, andererseits von politischen Systemen wie Kommunismus und Nationalsozialismus, wobei diese ja ebenfalls vorgaben, im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts zu handeln. Gestimmt haben diese Prognosen bekanntlich noch nie, was viele heutige Apostel des Atheismus allerdings nicht daran hindert, sie gebetsmühlenartig zu wiederholen. Der russische Philosoph Nikolai Berdjajew (1874–1948) hingegen, der vor dem kommunistischen Terror nach Frankreich floh, bezeichnete den Menschen zutreffend als „unheilbar religiös“ – und sah somit korrekt voraus, daß es den Kommunisten nicht gelingen würde, die Religion auszurotten.

3. Der Mensch ist ein egoistisches Wesen. Auch dieser Umstand bedarf im Grunde keines Beweises. Erwähnenswert ist hingegen die Erkenntnis, daß der Mensch keineswegs nur egoistisch ist – wie er ja auch keineswegs nur biologisches oder nur religiöses Wesen ist. Der Mensch transzendiert die Gesetze der Natur in mehrfacher Hinsicht, auch durch seine Überwindung des Egoismus. Der österreichische Schriftsteller Hieronymus Lorm (1821–1902) beschrieb dieses Phänomen folgendermaßen: „Ein Hungriger bemächtigt sich gierig der ihm gebotenen Speise – das ist die Natur. Er überreicht die Speise einem andern Hungrigen, der keine hat und hungert selbst weiter – das geht über die Natur hinaus. In ihrem ganzen Bereiche, das durch und durch Causalität ist, findet sich kein Motiv für das sittliche Opfer […] Im Menschen ist, wie ich schon sagte, die Natur mit sich selbst zerfallen.“

Aber auch der natürliche Egoismus des Menschen ist keinesfalls so primitiv, daß er immer nur auf Besitz aus wäre. Auch das durchaus edle Streben nach Freiheit, Ehre, Wissen etc. trägt egoistische Züge. Ja, was ist letzten Endes die derzeitige Hysterie um den Klimaschutz denn anderes? Was steht auf den Plakaten der protestierenden Schüler? „Es geht um unsere Zukunft!“ Quod erat demonstrandum. Unter den Ideologien ist es vor allem der Sozialismus, der nie verstehen wollte, daß der Mensch zuerst seinen eigenen Nutzen sucht. Wie formulierte der große Adam Smith: „Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse.“ Hätte es für diese These noch eines Beweises bedurft, der weltweite Sozialismus hat ihn erfolgreich erbracht.

Der Mensch ist ein diskriminierendes Wesen. Er ist gerne unter seinesgleichen. Das fängt bei banalen Beispielen wie dem „Mädelsabend“ an und geht bis hin zu der Tatsache, daß kulturell homogene Gesellschaften harmonischer funktionieren als heterogene. 

4. Der Mensch ist ein diskriminierendes Wesen. Das bedeutet zunächst nur, daß er in der Begegnung mit seinen Mitmenschen Unterschiede zwischen diesen macht, basierend auf Faktoren wie Alter, Geschlecht etc. Der Mensch ist gerne unter seinesgleichen. Das fängt bei banalen Beispielen wie dem „Mädelsabend“ an und geht bis hin zu der Tatsache, daß kulturell homogene Gesellschaften harmonischer und friedlicher funktionieren als heterogene. Der Historiker Egon Flaig formulierte im Jahre 2008: „Der Multikulturalismus wird nur von der sogenannten Linken in den liberalen Gesellschaften vertreten. Außerhalb dieser Gesellschaften gibt es keinen Multikulturalismus und hat es nie einen gegeben.“

Allerdings wäre zu fragen, ob es ihn denn selbst in den liberalen Gesellschaften je wirklich gegeben hat. Wer beispielsweise in die USA schaut, wird feststellen, daß diese mitnichten ein Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen sind, sondern eher einer Salatschüssel gleichen, in der jede Kultur ihren jeweiligen Platz hat und deutlich von den anderen zu unterscheiden ist. In den meisten europäischen Ländern bietet sich ein ähnliches Bild.

Die Fraktion der Antidiskriminierer will dieses Phänomen jedoch nicht wahrhaben. Ironisch dabei ist, daß kaum jemand so stark diskriminiert wie diese Fraktion selbst. Die politisch Korrekten verkehren ausschließlich in ihren eigenen Kreisen und rümpfen die Nase über jeden, der sich mit Andersdenkenden abgibt – und sei es auf einer privaten Geburtstagsfeier.

„Auch der Mensch hat eine Natur, die er nicht beliebig manipulieren kann“, sagte Papst Benedikt XVI. 2011 bei seinem Auftritt im Deutschen Bundestag. Ob er dabei alle hier genannten Punkte im Auge hatte, muß dahingestellt bleiben, aber mit Sicherheit gingen seine Gedanken in eine ähnliche Richtung. Im Gegensatz zu landläufigen Vorurteilen hat das Christentum nämlich ein weitaus realistischeres Bild vom Menschen als die hier erwähnten Ideologien. Gewiß, Jesus lehrte Friedfertigkeit und Nächstenliebe, aber gerade weil er wußte, daß der Mensch von Natur aus nicht dazu neigt. Gewiß, Paulus transzendierte in seiner Theologie die bestehende Ordnung, jedoch ohne zum politischen Umsturz aufzurufen. Gewiß, der heilige Augustinus rang mit seiner eigenen Körperlichkeit und Sexualität, doch erkannte er sie eben dadurch als unweigerlich gegeben an.

Sagen wir es so: Man muß kein Christ sein, um die Natur des Menschen zu verstehen – aber es hilft!






Dr. Sebastian Moll, Jahrgang 1980, ist evangelischer Theologe und Studienleiter der THS-Akademie für pastorale Führungskräfte in Bingen am Rhein. Sein neuestes Buch „Glauben du mußt. Star Wars und der christliche Glaube“ ist im Brendow-Verlag, Moers 2018, erschienen. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Bedeutung von Weihnachten („Geburt der Menschenwürde“,   JF 53/15-1/16).

Foto: Heiterer Mädels­abend: Der Mensch macht in der Begegnung mit seinen Mitmenschen Unterschiede zwischen diesen, die sich auf Alter, Geschlecht, Einkommen, Herkunft und ähnliches beziehen. Die Fraktion der Antidiskriminierer will dieses Phänomen partout nicht wahrhaben.