© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/19 / 19. April 2019

Hinter den Linien mit dem Mut der Verzweiflung
Der Historiker Daniel Heintz hat eine beachtenswerte Studie über Rückkämpfer an der Ostfront des Zweiten Weltkriegs vorgelegt
Jan von Flocken

Generalleutnant Otto Drescher, Kommandeur der 267. Infanteriedivision, richtete am 6. Juli 1944 einen flammenden Appell an seine Soldaten: „Jeder, der Heimat und Familie wiedersehen will, muß mit uns kämpfen. Ich möchte niemanden darüber im Zweifel lassen, daß der Weg ein harter und entsagungsreicher werden wird. Wer das schimpfliche Los der Gefangenschaft vorzieht, und sich der bekannten Grausamkeit der bolschewistischen Mordbrenner aussetzen will, der bleibe. (...) Auf Kameraden! Zum Entscheidung suchenden Angriff, zurück in die Freiheit und die Heimat!“ Dreschers Division war etwa fünfzig Kilometer ostwärts Minsk eingekesselt worden. Der Ausbruch, oft mit „Hurra“ und blanker Waffe, gelang Hunderten Soldaten, den sogenannten Rückkämpfern.

Erscheinung des modernen Bewegungskrieges

Das Phänomen des klassischen Rückkämpfers bildete sich erst im Jahr 1944 aus. Denn die Kessel an der Ostfront im Winter 1941/42 waren weitgehend stabil und ihre Insassen konnten meist erfolgreich aus der Luft versorgt werden. Zwar gab es 1943 vereinzelte Rückkämpfer aus dem Kessel von Stalingrad oder an der Nordafrikafront, doch erst der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Juni/Juli 1944 brachte Zehntausende Rückkämpfer hervor. Das starre Festhalten der deutschen Führung an sogenannten Befestigten Plätzen, die im Rücken des Gegners als „Wellenbrecher“ dienen sollten, erwies sich als schlimme Fehlkalkulation. Den von allen Seiten dem Feind ausgelieferten Soldaten blieb oft nur die Wahl zwischen Gefangenschaft und Zurückkämpfen westwärts auf die deutschen Linien.

In seinem Kompendium „Zerschlagen und vermißt“ hat der Autor Daniel Heintz eine kaum zu übersehende Fülle an Archivalien über die Rückkämpfer, Rückkehrer und die Abwicklungsstäbe der Wehrmacht erschlossen. Das Ergebnis übertrifft bei weitem die zuweilen recht einseitigen Veröffentlichungen des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr. Manchmal erdrückt Heintz den Leser förmlich mit seinem Faktenmaterial. Allerdings versteht er es, durch zahlreiche eingestreute Erlebnisberichte von Frontsoldaten die Lektüre wieder aufzulockern. „Geschichten von Tod und Überleben, Mut und Feigheit, Verrat und Standhaftigkeit“ präsentieren sich in allen Facetten.

So zogen Tausende Mannschaften und Offiziere, meist Angehörige zerschlagener Verbände, wochenlang, bis zu fünfzig Tage, über hundert bis zu 800 Kilometer durch das russische Hinterland. Sie schlugen sich, immer wieder in Gefechte verwickelt, immer wieder eingeschlossen und im Durchbruch wieder befreit, tage- und nächtelang, ohne Verpflegung und Schlaf, bei glühender Hitze unter unsagbaren Strapazen, über schwieriges Gebirgsgelände oder reißende Flußläufe zu den eigenen Linien zurück. Oft ließen sie sich lieber von den Sowjets erschießen, als in Gefangenschaft der Gefahr ausgesetzt zu sein, Kameraden und deren Stellungen zu verraten. Viele Rotarmisten verwunderten und empörten sich darüber, daß gegnerische Soldaten vor ihrer Hinrichtung noch „Es lebe Deutschland!“ oder „Heil Hitler!“ ausgerufen hätten. Das galt ebenso für die im Herbst 1944 schwerbedrängte Heeresgruppe Südukraine, wo wiederum Tausende eingekesselt wurden.

Zur Einordnung der Zurückgekehrten gab es folgende Richtlinie: „Rückkämpfer ist nur der, der sich zurückgekämpft hat. Männer, die sich nur drei bis fünfTage hinter der feindlichen Linie aufgehalten haben, sind keine Rückkämpfer.“ Sie wurden als Rückkehrer bezeichnet. Am vordringlichsten mußte dann von den Abwicklungsstäben geprüft werden, ob es sich um tatsächliche Rückkämpfer oder um Spione, Provokateure und Verräter handelte. Die Sowjets setzten nämlich ab Ende 1943 gezielt deutsche Kriegsgefangene mit Sympathien für den Bolschewismus ein. Sie sollten im Auftrag des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ (NKFD) meist in deutschen Uniformen Verwirrung stiften, Wehrmachtangehörige zum Überlaufen veranlassen, Sabotageakte verüben, falsche Befehle erteilen. Viele von ihnen tarnten sich als Rückkämpfer und waren mit den entsprechenden Legenden ausgestattet. Oft mußten die Abwicklungsstäbe deswegen mit anderen Dienststellen, so der Geheimen Feldpolizei, zusammenarbeiten.

Weiterhin sollten Zehntausende Vermißtenschicksale möglichst genau aufgeklärt sowie die Angehörigen und die jeweiligen Betreuungsstellen informiert werden. Wobei allerdings bei Männer, die Selbstmord wegen drohender Gefangenschaft begangen hatten, der Grundsatz galt, „diese Soldaten als gefallen zu melden und zu behandeln“. Es wurde vom Oberkommando des Heeres (OKH) für Anfragen nach vermißten Soldaten angeordnet: „Die Anfragenden sind zuvorkommend zu behandeln; sie sind berechtigt, Trost und Hilfe zu erwarten. Die Mitarbeit an der Abwicklung ist Kameradschaftsdienst an der kämpfenden Truppe und Dienst am Volke.“ In diesem Sinne bearbeitete der OKH-Abwicklungsstab im thüringischen Rudolstadt Zehntausende Fälle.

Letztlich war der Rückkämpfer eine Erscheinung des modernen Bewegungskrieges. Erst dieser mobile Krieg in Verbindung mit immer wieder zusammenbrechenden Frontabschnitten brachte derartige Einzelkämpfer und Überlebenskünstler hervor. Nach 1945, so die These des Autors, dürfte das Phänomen des Rückkämpfers höchstens vereinzelt vorgekommen sein. „Weshalb insgesamt der Rückkämpfertypus im Gros ein deutsches Phänomen des Zweiten Weltkrieges darstellt.“

Der eingangs erwähnte General Drescher wurde übrigens nach seinem erfolgreichen Rückkampf aus dem Kessel am 18. August 1944 bei Memel tödlich verwundet.

Daniel Heintz: Zerschlagen und vermißt. Rückkämpfer, Rückkehrer und der Abwicklungsstab der Wehrmacht. Helios Verlag, Aachen 2018, gebunden,  535 Seiten, Abbildungen, 36 Euro