© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/19 / 19. April 2019

Eine Neuerzählung vom deutschen Staat wird gesucht
Autoren eines Sammelbandes schaffen es nicht, Ansätze einer sinnstiftenden Narration für das eigene Land vorzulegen
Felix Dirsch

Über die Situation des Staates und seiner komplexen Organisation läßt sich Widersprüchliches feststellen. Einerseits hat sich dieses in vielerlei Hinsicht spezifisch europäische Konstrukt weltweit etabliert, auch dort, wo es traditionell ganz andere Arten des Zusammenlebens gibt, etwa Stammesstrukturen. Andererseits jedoch ist er überall durch die zunehmende Individualisierung, aber auch durch die Globalisierung (Umwelt, Wirtschafts- und Finanzströme, Grenzüberschreitungen durch Technik) unter Druck geraten.

In einer solchen Situation scheint es ratsam, das zu reflektieren, was Identität und Orientierung der Staatlichkeit vermittelt. Dazu zählen nationale Mythen und Erzählungen, die vor allem den Zusammenhalt der früheren mit den gegenwärtigen und zukünftigen Generationen im Blick behalten und festigen sollen.

Deutschland ist diesbezüglich schlechter aufgestellt als viele seiner Nachbarn. Während diese auf positive Ereignisse der Nationalgeschichte zurückschauen, die noch heute sinnstiftende Prägekräfte entfalten, bleibt in Deutschland weitgehend nur die negative Gründungsnarration des Holocaust übrig. Der frühere Außenminister Joschka Fischer konstatierte dies während seiner Amtszeit unverblümt sogar als „Gründungsmythos der Bundesrepublik“. Nähere Reflexionen über etwaige Folgen eines derartigen „absoluten Bösen“ (Ernst Nolte) für die unmittelbare Gegenwart unterblieben.

Zentrale Staatsaufgaben sind aus dem Blick geraten

Es ist bezeichnend für den vorliegenden Sammelband, daß er solche heiße Eisen ignoriert. Stattdessen wird beispielsweise die „politische Erzählkunst im 19. Jahrhundert“ (Steffen Martus) und die „Fürstenberatung mit und ohne den Fürsten“ (Jürgen Kaube) thematisiert. Für eine adäquate heutige „Staatserzählung“ wenig ergiebig. 

Anregender im Vergleich dazu ist Friedbert W. Rübs Aufsatz über „Das Jahrhundert der Politik“, den er mit einem Fragezeichen versieht. Er reflektiert über die Tatsache, daß die „Politik der Zuversicht“ am Anfang des 20. Jahrhunderts sich ein Jahrhundert später mehr und mehr in eine skeptische Reaktivität verwandelt. In der Tat kann man seit geraumer Zeit die These vom „Verschwinden der Politik“ (Wolfgang Fach) vernehmen. 

Dabei handelt es sich nicht nur um theoretische Annahmen. Immer weniger ist der Staat in der Lage, Recht durchzusetzen. Die amtierende Bundeskanzlerin stellte sogar in Abrede, daß selbst eine zentrale Staatsaufgabe wie die Sicherung der Grenzen möglich sei. Daß derartige Unfähigkeit nichts anderes mit sich bringt als eine schleichende Erosion des Rechtsstaats, ist ihr und den meisten Repräsentanten der politisch-medialen Deutungseliten wohl nicht bewußt. Während hier die Grenzen der Politik offenkundig werden, sind sie in der Wohlfahrtsversorgung anscheinend noch nicht erreicht. Die finanziellen Konsequenzen der Einwanderungswellen der letzten Jahre liegen mittlerweile offen zutage. Rüb kommt zum Ergebnis, daß Politik immer mehr zum Reparaturbetrieb anderer Sektoren mutiere, etwa zur Haftungsanstalt für durch Großbanken verzocktes Geld. Gestaltende Antriebe kann er immer weniger ausmachen. Der Steuerungsverlust des Staates, der in der Migrationskrise offenkundig wurde, läßt sich also problemlos in einen weiteren theoretischen Rahmen einordnen.

Von den übrigen Beiträgen, die hier nicht alle rekapituliert werden können, sind noch Gabriele Metzlers Essay „Vom Zerfasern der großen Erzählungen“ und Wolfgang Schäubles Überlegungen zu „Staat und Religion im 21. Jahrhundert“ anzuführen, darüber hinaus Herfried Münklers Suche nach einer neuen Europaerzählung. Natürlich fehlt auch die omnipräsente Populismus-Problematik nicht, die Felix Wassermann und Grit Straßenberger erörtern. Wenn der herkömmliche etatistische Aufbau immer stärker an Einfluß verliert, stellt sich die Frage: Was kommt danach? Eine konsensfähige Europanarration liegt (noch?) nicht vor. Münklers Studie legt darüber Zeugnis ab. Eine „Republik Europa“, wie sie wirkmächtig die Politologin Ulrike Guérot vertritt, dürfte noch eine Zeitlang utopische Züge behalten. Überwiegend linke wie liberale Theoretiker, aber auch die meisten Brüsseler Eurokraten, so zeigt Münkler, präferieren die Sicht von Europa als Global Player. Eher konservative Erzählweisen, wie sie besonders in Osteuropa anzutreffen sind, beharren auf dem grundlegenden Modell von primär intergouvernementalen Vereinbarungen europäischer Nationen, deren Rolle als „Herren der Verträge“ betont wird.

Man merkt eines unschwer: Der Titel des Sammelbandes, der etliche Beiträge anläßlich des Kolloquiums zum 65. Geburtstag des Politologen Herfried Münkler vereinigt, verspricht mehr, als er halten kann. Schon gar nicht zeigt er, wie Demokratie zukunftsfähig gemacht wird.

Grit Straßenberger, Felix Wassermann (Hrsg.): Staatserzählungen. Die Deutschen und ihre politische Ordnung. Rowohlt-Verlag, Berlin 2018, 317 Seiten, gebunden, 26 Euro