© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/19 / 26. April 2019

Fortsetzung von Seite 13 zu Da Vinci: Er veränderte unseren Blick auf die Welt
Unter dem Gesetz der Schönheit
Günter Zehm

Ein Kapitel für sich ist der Blick auf Leonardo da Vinci als Anatom. Seine einflußreiche Stellung  an den Höfen der italienischen Herzöge und im Vatikan sowie die Bewunderung, die ihm aus der Gelehrtenwelt entgegenschlug, erleichterten ihm den Zugang zu Leichnamen auch aus reichen Familien, selbst im Zustand des fortgeschrittenen Verfalls, und der leidenschaftliche Naturerforscher nutzte diese Chance. Mehr als dreißig Leichen soll er persönlich seziert haben, stets in voller Öffentlichkeit und unter der Assistenz berühmter Ärzte. Sorgfältige Protokolle über die einzelnen Prozeduren wurden angefertigt; von Leonardo selbst sind unter anderem Skizzen von Armen und Beinen, dem Nervensystem, Herzmuskeln und Schädeln überliefert. Als erster in der Medizingeschichte beschrieb er eine Leberzirrhose. Freilich gibt es von ihm auch die Skizze eines noch ungeborenen Kindes im Mutterleib, einzigartig in der Welt von damals. 

Einige empfindliche Renaissance-Ästheten – unter ihnen soll auch Raffael gewesen sein – zeigten sich bekümmert über diese anatomischen Ausflüge des verehrten Meisters in die „grobe Natürlickeit“ des realen Lebens und Sterbens. Sie sahen darin einen „Verrat“ an der neuen Zeit, die doch unter dem Gesetz der Schönheit stehen müsse, der Pracht und der universellen Harmonie. Man dürfe die bisher waltende metaphysische Abstraktheit des Christentums, ihren strikt aufs Wort gebauten Idealismus, doch nicht einfach durch das pure Gegenteil, nämlich einen plattfüßigen, vor Widersprüchen und Feindseligkeiten   überquellenden Materialismus ersetzen!

Da Vinci reagierte darauf nicht. Er wußte schon, was viele andere erst viel später lernen sollten: daß wahre Schönheit und Harmonie gerade in der konkreten, natürlichen Differenz und Vielfältigkeit der Dinge und Verhältnisse liegen, daß es also gilt, sich als Künstler wie als Gelehrter voll auf diese Verhältnisse einzulassen, sie abzubilden, in all ihren Farben und Möglichkeiten erstrahlen zu lassen, statt sie kleinzureden und zu ignorieren. Leonardo blieb Idealist, wurde kein Materialist, blieb Katholik und Papist, wurde weder ein italienischer  Luther noch ein italienischer Erasmus von Rotterdam.

Er war ein Optimist mit sarkastischen Anwandlungen

Und er war ja nicht nur Anatom, sondern – neben vielem anderen – auch Architekt, betätigte sich eifrig am Bau der Dome in Mailand und Pavia und half Raffael bei der Neugestaltung und inneren Verschönerung des Petersdoms in Rom. Er residierte dort im Belvedere des Vatikans und begegnete, wie er fast gerührt in den „Codici“ notierte, „vielen alten Freunden“. Er bekam ein eigenes Atelier – mit einem deutschen „Mitarbeiter“ allerdings, vulgo: einem Spitzel, der den Auftrag hatte, den Papst über alle seine Aktivitäten zu unterrichten. 

Die letzten zwei Jahre seines Lebens verbrachte Leonardo da Vinci auf Einladung des französischen Königs Franz I., des großen Widersachers des deutschen Kaisers Karl V., im Schloß Clos Lucé nahe Amboise. Der Aufenthalt  war mit einer großzügigen Pension aus der königlichen Schatulle verbunden, und der berühmte Pensionär genoß auch sonst die höchsten Privilegien. Der König selbst kam oft zu Besuch und ließ sich auf ausgedehnte Gespäche mit seinem Schützling ein. „Leonardos Wissen in der Philosophie und den schönen Künsten“, so diktierte er seinem Geheimsekretär, „steht jenseits dessen,  was bisher alle Sterblichen wußten.“

Trotzdem muß man konstatieren, daß die Geschichte der Entwicklung von Kunst und Wissenschaft – bis heute jedenfalls – Leonardo da Vinci  nicht recht gegeben hat. Nicht das Prinzip natürlicher Schönheit hat sie geprägt, sondern eher das Prinzip der Häßlichkeit, nicht die Qualität, sondern die pure Quantität, die große Masse und ihr Geschrei nach noch mehr Masse.

 Und was die „natürlichen Gesetzmäßigkeiten“ betrifft, die dem Schöpfer der „Mona Lisa“, der „Felsgrottenmadonna“ und der „Leda mit dem Schwan“ so wichtig waren, so stellte sich heraus: Nicht der Blutkreislauf und das Schlagen des lebendigen Herzens waren die Endpunkte des Erkundens, nicht einmal der von ihm so streng ignorierte Tanz der Atome des Demokrit, vielmehr ging es eines Tages nur noch um sogenannte „Teilchen“, um Elektronen, Positronen, Neutronen, Gene, Unschärferelation. Jeder Begriff von Schönheit, ja von Anschaulichkeit überhaupt, fiel regelrecht aus der Wissenslehre heraus.

Die von da Vinci so sehr ersehnte Entwicklung der Optik hatte es möglich gemacht. Es entstanden Mikroskope und Radioteleskope, und jede Neukonstruktion entfernte uns weiter von der Vorstellungswelt des großen Renaissance-Gelehrten. Mittlerweile sind die Teilchen selbst mit den schärfsten Mikroskopen nicht mehr zu sehen, nur noch zu „berechnen“. Es sind „Teilchen ohne geometrische Eigenschaften“, ohne Raumfüllung, Ort und Zeit. Sie können „gleichzeitig“ an einem „Ort“ und ganz woanders sein. „Absurd!“ hätte der große Meister in seinen mächtigen Bart gemurmelt

Gänzlich ausgeschlossen hätte er solche Entwicklungen aber wohl nicht. Er traute der Schöpfung vieles zu und war ein Optimist mit sarkastischen Anwandlungen. „Leider recht zahlreich“, notiterte er einmal in seinen Tagebüchern, „sind jene, die sich als einfache Kanäle für die Nahrung fühlen, Erzeuger von Dung. Man könnte sie auch als Füller von Latrinen bezeichnen, denn sie kennen keine andere Beschäftigung in dieser Welt. Sie befleißigen sich keiner Tugend. Von ihnen bleiben nur volle Latrinen übrig.“

Er selbst war durchaus tugendhaft, forderte dafür freilich stets hohe bis höchste Honorare. Ihn hätte zweifellos sehr erfreut zu vernehmen, daß eines seiner Jesusbilder im Jahre 2019 für 450 Millionen Dollar an einen saudischen Prinzen verkauft wurde. Sogar sein arabischer Großvater hätte ihm wahrscheinlich dazu gratuliert.