© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/19 / 26. April 2019

Das Tor zur Freiheit
In den fünfziger Jahren ein nationales Symbol: Christopher Spatz zum Grenzdurchgangslager Friedland
Dag Krienen

Im September 1945 erließ die britische Militärregierung den Befehl zur Errichtung eines Lagers, das „der Durchschleusung und der ersten Betreuung von Evakuierten und Flüchtlingen“ dienen sollte. Die am 20. September in Friedland (Niedersachsen) eröffnete Einrichtung war nur eins von mehreren Aufnahme- und Durchgangslagern, existiert aber anders als diese noch heute als Grenzdurchgangslager sowohl zur Aufnahme von Spätaussiedlern als auch als Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge.

Der Historiker Christopher Spatz erwarb 2015 mit einer Arbeit über „Identität und Identitätswandel ostpreußischer ‘Wolfskinder’ in der deutschen Gesellschaft“ seinen Doktortitel. Das Schicksal der Kinder, die durch den Krieg Eltern und Heimat verloren hatten, hat er auch einem nichtakademischen Publikum durch ein vor allem auf den Erzählungen von überlebenden Wolfskindern beruhendem Buch näherzubringen versucht („Nur der Himmel blieb derselbe. Ostpreußens Hungerkinder erzählen vom Überleben“, JF 20/17).

Chiffre für Heimatverlust und Wechsel der Welten

Auch Spatz’ neuestes Werk richtet sich an ein breiteres Publikum. Im Mittelpunkt stehen zwei weitere Gruppen von Deutschen, die durch den Krieg gezwungen waren, nach einem einschneidenden, traumatisierenden Bruch ihr Leben in einer für sie ungewohnten Umgebung wieder neu aufzubauen. Es handelt sich zum einen um die Spätheimkehrer aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft, insbesondere jene, die Ende 1955 nach Adenauers Besuch in Moskau entlassen wurden. Und zum anderen geht es um die mehr als 500.000 Menschen, die ab 1950 aus eigenem Entschluß als „Aussiedler“ aus den ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten in Osteuropa nach Westdeutschland zogen, um dem Druck der neuen Herren in ihrer alten Heimat zu entkommen. Sie alle wurden über das Lager Friedland, das „Tor zur Freiheit“, geschleust. Allesamt „heimatlos“ geworden, auch jene, die noch eine Familie im Westen vorfanden, die ihnen aber mehr oder weniger fremd geworden war, stellte das Lager eine Übergangsstation dar, die am Anfang ihrer Schritte in eine neue, unvertraute Welt stand. Friedland wurde so zur „Chiffre für Heimatverlust und Wechsel der Welten“.

Anstoß zu diesem Buch gab auch der Nachlaß des Berufsfotografen Fritz Paul (1919–1998). In dessen Fotoarchiv fanden sich rund 6.000 Negative aus Friedland. Fritz Paul, dessen Lebensgeschichte sein Sohn im Buch kurz schildert, verstand es, die Hoffnungen, Erwartungen und Ängste der Portraitierten in Momentaufnahmen aufscheinen zu lassen, ohne jede Sensationsgier und ohne ihnen ihre Würde zu nehmen. Die zahlreichen Schwarz-Weiß-Fotografien Pauls im Buch machen einen erheblichen Teil seines Wertes aus.

Spatz nutzt dieses Bildmaterial im Text in kongenialer Weise, um den Lesern jenen Zwiespalt zu verdeutlichen, in dem sich die „Spätheimkehrer“ und „Aussiedler“ befanden, von der Erleichterung über das endliche Entkommen aus Feindeshand, der Freude über die „Rückkehr in die deutsche Heimat“ bis zur bangen Ungewißheit, wie diese denn nun beschaffen sein würde und ob sie dort wieder würden Tritt fassen können. 

Die Schicksalsgemeinschaft stärkte den Zusammenhalt

Doch gab es einen gravierenden Unterschied zwischen der Rückkehr der Kriegsheimkehrer und jener der Aussiedler. Der Empfang der ersteren wurde in Friedland von offizieller Seite im großen Stil mit Ansprachen von Ministern, Honoratioren und Kirchenleuten inszeniert. Zugleich stand die Rückkehr der letzten Kriegsgefangenen im Zentrum der Aufmerksamkeit nicht nur der der wartenden, zwischen Hoffnung und Angst hin und her gerissenen Angehörigen, sondern auch unzähliger Deutschen aus dem ganzen Lande. „Im dominierenden Opferdiskurs fanden sich die entlassenen Kriegsgefangenen genau so wieder wie trauernde Soldateneltern und Soldatenbräute sowie Flüchtlinge und Vertriebene. Das wirkte [1955] integrativ und stärkte den gesellschaftlichen Zusammenhalt“. Insoweit stellte Friedland für einige Jahre tatsächlich ein nationales Symbol der Rückkehr zur politischen und gesellschaftlichen Normalität dar.

Dies galt, wie Spatz hervorhebt, indes nicht für die sich über Jahrzehnte hinziehende Ankunft der Aussiedler. Auch wenn hier anfangs ebenfalls eine gewisse Anteilnahme zu verzeichnen war, fehlten Ministeransprachen oder große offizielle Inszenierungen völlig. Eine Ursache dafür war, daß die nach dem Ende der Vertreibungen formal freiwillige Aussiedlung Deutscher aus den Ostgebieten den nationalen Anspruch auf deren Rückgabe bedrohte. Ein „großer Empfang“ der Aussiedler in der neuen Heimat hätte von der Gegenseite als faktische Anerkennung des Gebietsverlustes ausgelegt werden können. So funktionierte die Aufnahme der Aussiedler auf administrativer Ebene gut, ein „eigener Platz im westdeutschen Erinnern“ blieb ihnen indes verwehrt.

Aber auch die „nationale Erinnerungsgemeinschaft“ an die Flüchtlinge, Vertriebenen und Kriegsheimkehrer begann ab Mitte der sechziger Jahre zu zerfallen. Zur Grundsteinlegung für die Friedland-Gedächtnisstätte im Mai 1966 reiste immerhin noch Ex-Bundeskanzler Adenauer an. Bei der Einweihung im Oktober 1967 waren nicht einmal mehr nachrangige Vertreter des Bundes vor Ort. Das Gedenken wurde zu einer partikularen Angelegenheit der Organisationen der „Betroffenen“.

Ab 1969 galten diese und ihr Anliegen, die Erinnerung an die Vertreibungen und den Verlust des deutschen Ostens, in immer größeren Teilen des politischen Spektrums und in den Medien zunehmend als politisch unerwünscht, ja gefährlich. „Was ideologisch mißfiel, wurde nicht als Relikt einer vergangenen Zeit toleriert, sondern zunehmend als rechtsradikal und revanchistisch geschmäht.“ Es ehrt Christopher Spatz, daß er, wenn auch mit vorsichtiger Wortwahl und mit einer angemessenen Portion Pessimismus, gegen die Tendenzen der Zeit mit seinem Buch einen Beitrag dazu leistet, diese Verlust-Erinnerungen „als Bestandteil unseres kollektiven Gedächtnisses“ zu erhalten.

Christopher Spatz: Heimatlos. Friedland und die langen Schatten von Krieg und Vertreibung. Verlag Ellert & Richter, Hamburg 2018, gebunden, 224 Seiten, Abbildungen, 19,95 Euro