© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/19 / 26. April 2019

Ein Wendejahr auf den zweiten Blick
Der Historiker Frank Bösch analysiert, warum das Jahr 1979 große Auswirkungen bis in unsere Tage hat
Konrad Adam

Der Titel leistet, was ein guter Titel leisten soll, er macht neugierig. Warum denn ausgerechnet das Jahr 1979 als Zeitenwende bezeichnen, werden vor allem deutsche Leser fragen, und Jahreszahlen wie 1945, 1968 oder 1989 den Vorzug geben wollen. Das wäre aber voreilig, wie der Autor, der Potsdamer Zeithistoriker Frank Bösch, mit guten Gründen zu bedenken gibt. Im Vorwort skizziert er seine Thesen in gedrängter Form, im Nachwort nennt er ein paar subjektive Gründe für die Titelwahl; dazwischen bietet er eine ausführliche, quellengesättigte Darstellung der Ereignisse, die das Jahr 1979 aus dem einförmigen Strom der Geschichte herausheben und als den Punkt markieren, an dem die Welt von heute entstand.

Das erste Kapitel handelt von der Rückkehr Khomeinis nach Persien. Damals begann der Westen, den Islam als jene weltbewegende oder weltbedrohende Kraft wahrzunehmen, als die er uns seither geläufig ist. Weiter geht es mit dem Einmarsch der Russen nach Afghanistan, mit Chinas Wandel zur autoritär geplanten Marktwirtschaft, mit der Wahl Margaret Thatchers zur Premierministerin von England, dem Aufkommen der Grünen in Deutschland und einigem mehr aus Asien, Eu-ropa und Amerika; nur Afrika, der Krisenkontinent von heute, fehlt. Der Autor faßt die halbe Welt ins Auge, wobei nicht nur die hellen, sondern auch die Schattenseiten der Globalisierung in den Blick geraten.

Neben den klassischen Mechanismen der Außen- und Innenpolitik kommen die Vormächte der Neuzeit, die Wirtschaft und die modernen Medien, nicht zu kurz. Maßgeblich für das, was man früher die öffentliche Meinung nannte, sind kaum noch Bücher und immer weniger die Zeitungen, sondern Filme, TV-Serien und der bodenlose Morast des Internet. Bösch schließt seinen Überblick mit einem ausführlichen Bericht über die Folgen der TV-Ausstrahlung der „Holocaust“-Serie, die die Geschichtswahrnehmung nicht nur in Deutschland, sondern in aller Welt gründlich verändert hat.

Bilder bewirken mehr als Texte, im Zeitalter der ewigen Beschleunigung erst recht. Es waren die Bilder von erschöpften, schiffbrüchigen Flüchtlingen aus Vietnam, die 1979 aus der „Cap Anamur“ ein Symbol für grenzenlose Hilfsbereitschaft gemacht haben. Schlagwörter wie Fluchthelfer oder Wirtschaftsflüchtling, die – je nach Geschmack positiv oder negativ besetzt – heute wieder in Umlauf sind, stammen aus jener Zeit. Nur die Zahlen sahen damals anders aus als heute: Während sich die Parteien seinerzeit wegen der Unterbringung von gerade einmal 14 Vietnamesen in die Haare gerieten, geht es heute, vierzig Jahre später, um Millionen.

Zeitgeschichte in einem betont schnörkellosen Stil

Neu war die Entwicklung also nicht, die Politik hätte lernen können, tat das aber nicht. Ein Kabinettsbeschluß aus dem Jahr 1981 stellt fest, daß die Bundesrepublik kein Einwanderungsland sei „und auch nicht werden soll“ – eine Illusion, die von der CDU, die kurz danach die SPD als führende Regierungspartei ablöste, dem Augenschein zuwider bis in die allerletzte Zeit verteidigt worden ist. Offenbar wird die Geschichte in ihrer Rolle als Weisheitslehrerin, als die magistra vitae weit überschätzt.

Das Buch macht deutlich, daß das Zeitalter der Massen, so oft vorausgesagt und ebenso oft perhorresziert, nun wirklich angebrochen ist. Auch ephemere Ereignisse können unberechenbare Wirkungen entfalten, wenn sie von charismatisch begabten Männern wie Khomeini, Deng Xiaoping oder Papst Johannes Paul II. aufgegriffen werden und Millionen von Menschen zur Nachfolge bestimmen. Die Zeit der großen Persönlichkeiten ist keineswegs vorbei; erst wenn sie abtreten, kehrt die Macht in den Fuchsbauten der Organisationen, Parteien und Verbänden zurück. Dann fragen sich die Leute, wer sie nun eigentlich regiert, und finden keine Antwort. Für die Herrschenden ist das eine komfortable Lage, da es schwer ist, gegen Mächte zu rebellieren, die man nicht sieht. Man möchte sich ein Stichwort borgen, „allein bei wem?“

Politik und Wirtschaft liefern solche Stichwörter längst nicht mehr, von einer Rückkehr der Religionen wird man nur dann reden können, wenn man dabei das Christentum ausnimmt. Die Wissenschaft hilft auch nicht weiter, weil sie nicht nur undeutlich, sondern mit vielen, reichlich dissonanten Stimmen zu sprechen pflegt. Sachkundige Experten bekommt man heute für alles und jedes; wer die Szene kennt, der weiß auch, was sie kosten, und bestellt sich gegen angemessene Bezahlung ein Gutachten ganz nach Geschmack. Die keineswegs paradoxe Folge ist ein wucherndes Mißtrauen, das über Parteien, Verbände, Kirchen und Medien längst hinausgewachsen ist und auch die Wissenschaft nicht mehr verschont.   

Bösch hat eine große, eine fast zu große Menge an Material zusammengetragen. Anmerkungen, Quellen- und Literaturangaben ergänzen seinen Text und laden den Leser dazu ein, sich kundig zu machen, sich selbst ein Urteil zu bilden. Der Autor verkündet keine Weltbilder, betreibt keine Geschichtspolitik, sondern schreibt Zeitgeschichte in einem nüchternen, betont schnörkellosen Stil. Allein das hebt sein Buch über vieles von dem hinaus, was heute als Geschichtswissenschaft daherkommt.

Frank Bösch: Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann. Verlag C.H. Beck, München 2019, gebunden, 512 Seiten, Abbildungen, 28 Euro