© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/19 / 26. April 2019

Früher war ich schließlich dabei
Gegen eine allzu pauschale Vergangenheitsverklärung
Paul Leonhard

Ein wenig neidisch ist er schon, der französische Philosoph Michel Serres, der selbsterklärte „Meckeropa“, wenn ein junges Mädchen ihr Handy schwenkt und sagt: „Ich halte die Welt jetzt in den Händen.“ Milliarden können heute dank ihrer Mobiltelefone wie einst Augustus ausrufen: „Ich bin Herrscher meiner selbst wie des Universums.“ Diese Jungen sind jedoch eine Minderheit in einem Frankreich von Meckergreisen, die ihren Enkeln nur eines zu sagen haben: Früher war alles besser! Was aber nicht stimmt, wie Serres jetzt in einem „optimistischen Wutanfall“ voller pointierter Anekdoten aus seinem Leben nachweist. Die Vergangenheit war gar nicht so herrlich: „Denn bei diesem Früher war ich schließlich dabei.“

Serres, aus armen Verhältnissen stammend, hat alle Seiten des Lebens ausgekostet: Er war Internatsschüler, Binnenschiffer, Marinesoldat im Sinai-Krieg, Bauarbeiter, bevor er schließlich als Philosoph zu einem der „Unsterblichen“ der Académie française wurde.

Wie schon in seiner „Liebeserklärung an die vernetzte Generation“ wendet sich Serres auch diesmal an jene jungen Menschen, die mit flinken Fingern ihre Smartphones steuern. Was wissen diese von Zeiten, als die Landbewohner noch nicht entwurzelt, die Jugend noch nicht von der Natur entfremdet waren? Als die Gerüche schlimm waren, die Kleider und Schuhe unbequem? Und wie war das damals mit dem Reisen, der Kommunikation, der Herkunft der Lebensmittel, den Kleider- und Schlafgewohnheiten, der Sexualität, der Häßlichkeit und Schönheit und warum die Elektrizität eine gute Fee?

Warum haben heutige Stadtplaner und Architekten „so rasch den raffinierten Geschmack ihres Landes“ vergessen, „um sklavisch Scheußlichkeiten amerikanischer Herkunft nachzuahmen?“, poltert es aus Serres heraus: Warum findet sich niemand, der „diese Schändlichkeiten in heiligem Zorn“ niederreißt? Am Ende seines herrlich zu lesenden „Expertenurteils“ eine erstaunliche Erkenntnis des 88jährigen: „Die Fortschritte, deren Lob ich singen wollte, haben eine hohe Lebenserwartung gezeitigt, und diese hat uns wiederum eine große Zahl von Greisen beschert.“ Diese schaden der Moral und blockieren Neuerungen: „Durch diese zirkuläre Kausalität bremst der Fortschritt sich selbst.“

Michel Serres: Was genau war früher besser? Ein optimistischer Wutanfall. Edition Suhrkamp, Berlin 2019, 80 Seiten, broschiert, 12 Euro