© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/19 / 03. Mai 2019

Arabisches Frühlingserwachen
Nordafika: Sudan, Algerien, Mali und Libyen – brennende Konflikte vor den Toren Europas
Marc Zoellner

Eine größere Feier als jene vom 11. April hatte es in Sudans Geschichte wohl noch nie gegeben: Allein in der Hauptstadt Khartum strömten Zehntausende auf die Straßen, um die lang ersehnte Nachricht zu begrüßen, die sie kurz zuvor im staatlichen Fernsehen erreicht hatte. „Als Verteidigungsminister erkläre ich, daß wir das Regime entmachtet und dessen Oberhaupt verhaftet haben“, verkündete dort Ahmed Awad Ibn Auf, seit Februar dieses Jahres als Vizepräsident gleichzeitig der zweite Mann im Staat, mit knappen Worten den Sturz des langjährigen, seit 1989 regierenden Diktators Umar al-Baschir durch die sudanesische Armee. Jubel brandete unter Zivilisten und Soldaten auf.

„Es ist ein phänomenaler Tag hier in Khartum“, berichtet Moawia Ahmed Khalid an jenem Nachmittag über die Feierlichkeiten. Im Frühjahr 2012, als der Arabische Frühling in den Sudan übergeschwappte, hatte der unter seinem Pseudonym „Nile“ bekannte Musiker mit „Dear Mr. President“ die inoffizielle Hymne zur Revolution gegen den sudanesischen Diktator komponiert (JF 32/12). „Ich sehe mein Volk sterben“, heißt es dort in der Anklage gegen al-Baschir, der wegen versuchten Völkermordes in Darfur vom Internationalen Strafgerichtshof  mit Haftbefehl gesucht wird – und dessen Bürgerkrieg gegen den nach Unabhängigkeit strebenden Süden des Landes Schätzungen zufolge bis zu zweieinhalb Millionen Tote forderte.

Einen Diktator durch einen anderen ersetzen 

Mehrere gescheiterte Anläufe hatte die Revolution im Sudan bereits zu verzeichnen gehabt. Der letzte, schließlich erfolgreiche Versuch begann symbolisch am 19. Dezember 2018, dem Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung des Sudan, mit einem spontan ausgerufenen Generalstreik. „Nach mehr als vier Monaten anhaltender Proteste, des kompletten zivilen Ungehorsams und öffentlicher Sitzblockaden warten die Menschen jetzt gespannt auf offizielle Verkündigungen zur Machtübergabe durch das Militär“, erzählt Moawia. Ein wichtiger Etappensieg hin zu Demokratie und freien Wahlen sei erzielt worden – und womöglich sogar einer zur Wiedervereinigung mit dem abgespaltenen Süden, welche viele Sudaner als höchst erstrebenswert erachten.

Insgesamt betrachtet, war der April ein schwarzer Monat für Nordafrika: Allerdings nur für die dort herrschenden Autokraten. Nur einen Tag nach dem Sturz al-Baschirs mußte auch Ahmed Awad Ibn Auf die Segel streichen. Der Armeeführer, der die Entmachtung al-Baschirs angeordnet hatte, geriet unter Verdacht, selbst nach der Macht im Sudan greifen zu wollen. „Wir ersetzen nicht einen Diktator durch einen anderen“, erklärte ein junger Demonstrant aus Wad Madani im Interview mit der JF die Fortführung des Generalstreiks. Dem Verteidigungsminister folgte nach nur einem einzigen Tag des Regierens bereits am 12. April Abdel Fattah Burhan, der vormalige Generalinspekteur der sudanesischen Armee, im Amt des Staatsoberhauptes. Am 17. April wurde al-Baschir in die Kober-Haftanstalt im Norden Khartums verlegt sowie mehrere hochrangige Moslembrüder aus dem persönlichen Machtumfeld des bekennenden Islamisten unter Hausarrest gestellt.

Bereits zwei Wochen zuvor mußte auch Algeriens Präsident, der 82jährige Abd al-Aziz Bouteflika, dem Druck der Massen weichen. Erst Anfang März hatte Bouteflika, der seit 1999 in autokratischer Manier über den Flächenstaat am Mittelmeer regiert, seine erneute Kandidatur für die algerische Präsidentschaftswahl angekündigt, die ursprünglich für den 18. April geplant war. Seit seinem Schlaganfall von 2013 galt der algerische Machthaber als gesundheitlich schwer angeschlagen. Er ließ sich kaum noch zu öffentlichen Auftritten sehen und verbrachte längere Zeit zur Genesung in schweizerischen Kliniken. Daß er trotzdem eine fünfte Amtszeit als Präsident anstrebe, sei „der Strohhalm, welcher dem Kamel den Rücken gebrochen hatte“, berichtet einer der über eine Millionen Demonstranten, die allein in Algier in den vergangenen Wochen gegen Bouteflika auf die Straße gezogen waren, im Gespräch.

Auch hier entschied schlußendlich das Militär: Namentlich Armeechef Ahmed Gaid Salah, einstmals loyaler Gefolgsmann Bouteflikas, welcher den Präsidenten Mitte März in einer Ansprache für „nicht regierungsfähig“ erklärte und hinzufügte, „eine Lösung müsse gefunden werden, welche die Befriedigung sämtlicher legitimen Forderungen der Algerier garantiere.“ 

Als Staat im Staate profitierte die Armee von den großzügigen Zuwendungen der seit 1962 als Einheitspartei regierenden sozialistischen Nationalen Befreiungsfront (FLN) aus dem Erdölexport. Im Gegenzug etablierte sich die Armee als Garant der kontinuierlichen Herrschaft der FLN über Algerien und unterstützte diese gar im Januar 1992 mit einem Militärputsch, als nach der Parlamentswahl ein Erdrutschsieg der fundamentalistischen Islamischen Heilsfront (FIS) drohte.

Auch in Algerien dauern die Proteste weiter an. Stellvertretend regiert das Land der Parlamentsvorsitzende Abdelkader Bensalah, der als einer der Vertrauensmänner Bouteflikas von diesem selbst zum Nachfolger bestimmt worden war. In den kommenden drei Monaten soll Bensalah die Präsidentschaftswahl, die von April auf Juli verschoben wurde, organisieren. Als Kandidat nominiert werden darf der Interimspräsident selbst laut Verfassung jedoch nicht. Wen die FLN gegen den Juristen Ali Benflis von der moderat-islamischen Hamas, die unter Algeriern als „regierungstreue Opposition“ gilt, ins Rennen schicken wird, ist bislang offen. Viele Demonstranten erhoffen sich echte Reformen und keinen bloßen symbolischen Machtwechsel. Auf der Seite 22fevrier2019.org, die von Regimegegnern ins Netz gestellt wurde, sammeln die Protestler derzeit ihre Forderungen an die Übergangsregierung; von der Liberalisierung der Presse bis hin zur Auflösung der FLN findet sich dort ein interessanter Querschnitt der politischen Ideale der algerischen Protestbewegung.

Jugendliche Protestler halten sich zurück

In Algeriens Nachbarland Mali mußte indessen Mitte April die komplette Regierung sowie der Premier Soumeylou Boubèye Maïga zurücktreten. Vor genau sieben Jahren hatten Rebellen der nomadischen Tuareg-Minderheit im Norden des Landes ihren eigenen Staat „Azawad“ proklamiert (JF 17/12). Islamisten der „Ansar Dine“, die später mit „Al Kaida im islamischen Maghreb“ (AQIM) verschmolzen, kaperten diese Rebellion jedoch und errichteten kurzzeitig einen Gottesstaat um die Region Timbuktu. Im darauf folgenden Bürgerkrieg, der bis heute immer wieder aufflammt, verloren die Grenzen zwischen Freund und Feind immer deutlicher an Kontur. Tuareg-Separatisten kämpften gemeinsam mit der schwarzafrikanischen Zentralregierung gegen die meist arabisch verwurzelten Islamisten, denen sich wiederum schwarzafrikanische Nomadenvölker aus dem mittleren Mali angeschlossen hatten.

Mitte März dieses Jahres eskalierte der Konflikt: Nachdem Dschihadisten einen Armeeposten überfallen hatten und 23 Soldaten töteten, griffen schwer bewaffnete Milizionäre des Dogon-Stammes, der als verbündet mit Malis Präsident Ibrahim Boubacar Keïta gilt, mehrere Dörfer des Hirtenvolks der Fulbe (bzw. Fulani) an, denen von Regierungsseite aus eine enge Bindung zur al-Qaida angelastet wird. Über 160 Zivilisten wurden bei diesem schlimmsten Massaker in der Geschichte des Mali ermordet. Mit Forderungen nach Frieden sowie nach Keïtas Rücktritt gingen daraufhin mehrere zehntausend Menschen in der Hauptstadt Bamako auf die Straße. Zwar ließ Keïta die Versammlung von Polizeikräften gewaltsam zerschlagen; seine Regierung unter Premier Maïga allerdings konnte er nicht mehr vor dem Rücktritt bewahren.

Vor acht Jahren begann in der Levante der „Arabische Frühling“, der Aufruhr unzähliger Bevölkerungen im Nahen Osten und in Nordafrika gegen ihre autokratischen Herrscher. Im Sudan, im Mali und in Algerien fand diese Umwälzung in den vergangenen Monaten ihre neuen Epizentren. Verhaltener gehen die meist jugendlichen Demonstranten heutzutage jedoch vor als noch zu Anfang des Jahrzehnts. In allen drei Staaten beschwören die führenden Köpfe der Opposition ihre Anhänger zu friedlichen Protesten. 

Zu schwer sitzt die Angst im Nacken vor einem ausgewachsenen Bürgerkrieg, wie ihn derzeit Libyen, Sudans und Algeriens direkter Nachbar sowie einstiger Protegé der rebellierenden Tuareg, erlebt. Seit dem Sturz des Machthabers Muammar al-Gaddafi wetteifern dort zwei Parteien um die Kontrolle über den ölreichen Wüstenstaat: Die international anerkannte, in Tripolis ansässige „Regierung der Nationalen Übereinkunft“ (GNA) unter Ministerpräsident Fayiz as-Sarradsch sowie die in Tobruk beheimatete Gegenregierung unter Marschall Chalifa Haftar, die von der Libyschen Nationalen Armee“ (LNA), den Streitkräften des Landes, unterstützt wird.

De facto besitzt as-Sarradsch außerhalb der Tripolitaner Gegend kaum Einfluß. Und auch in Tripolis bewegt er sich auf fragilem Terrain: Zu seinen Unterstützern zählen neben einer ganzen Reihe lokaler Stammesmilizen auch islamistische Gruppierungen wie die Moslembruderschaft und die al-Faruk-Brigaden. Der radikale Antiislamist Haftar, der vor zwei Jahren Benghazi vom Islamischen Staat befreite, nahm diese Konstellation nach einem halben Dutzend erfolgloser Verhandlungsrunden zum Anlaß, seinen Truppen am 4. April den Befehl zum Marsch auf Tripolis zu erteilen, um „der Schlange den Kopf abzuschlagen“. Seitdem gerät die GNA, einzig unterstützt vom Stadtstaat Misrata, auch militärisch unter Druck.

General as-Sarradsch droht mit neuer Migrantenwelle  

Zwar mag as-Sarradsch als libysches Staatsoberhaupt international anerkannt sein; Haftar jedoch wird von etlichen Regierungen bevorzugt unterstützt. Die Gründe hierfür sind mannigfaltig: Ägypten, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die Haftar in den vergangenen Monaten offen wie einen Staatsgast empfangen hatten, erhoffen sich vom Marschall eine Zerschlagung der libyschen Moslembruderschaft. Rußland wiederum, dem Tripolis illegale Waffenlieferungen nach Tobruk vorwirft, bekundet Interesse an den vielen libyschen Bodenschätzen. Und in Kreisen der US-amerikanischen sowie der französischen Regierung wächst die Überzeugung, Haftar könne die Problematik der illegalen Migration aus Afrika nach Europa weit effizienter unter Kontrolle bringen als as-Sarradsch. 

 „Auf libyschem Territorium gibt es 800.000 illegale Einwanderer“, drohte as-Sarradsch im Interview mit der Welt  mit dem Ernstfall, sollte die EU sich der Hilfe für Tripolis verweigern. „Sie werden einen Weg finden, nach Europa zu kommen, und unter ihnen auch Terroristen und Kriminelle.“

Im neunten Jahr des Arabischen Frühlings steht Libyen an einer Weggabelung: eine Richtung führt zu einer international anerkannten, prodemokratischen, jedoch von Islamisten gestützten Regierung, der andere in eine antiislamistische Militärdiktatur. In Algerien stehen die Vorzeichen anders – dort protestieren moderate, demokratiefreundliche Islamisten gegen eine säkuläre Militärdiktatur. Im Sudan wiederum rüttelt eine säkuläre Jugendbewegung an den Grundpfeilern einer islamistischen Diktatur. Ein Ende des Arabischen Frühlings ist damit längst noch nicht in Sicht.