© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/19 / 03. Mai 2019

Im Dienst der Verletzlichkeit
Kino: Nicolas Philiberts Filmdokumentation „Zu jeder Zeit“ über den Pflegeberuf
Sebastian Hennig

Zwei schlanke weibliche Hände üben ihre Reinigung in sieben Schritten. Von oben läuft das Wasser in die zusammengespitzten Finger hinein. Eine Hand wäscht die andere nach sehr sorgfältigen Regeln. Danach werden sie mit einer fluoreszierenden Paste eingerieben, die unter spezieller Lichtbestrahlung ungenügend gereinigte Stellen kenntlich werden läßt. Es zeigt sich, daß alle Lehrlinge sehr gewissenhaft vorgegangen sind. Schwieriger gestaltet sich die Blutdruckmessung. Die jungen Frauen stellen sich gegenseitig als Probanden zur Verfügung. Unsicherheit und Ungeschick überspielen sie mit Lächeln und Scherzworten. Noch haben Fehlgriffe keine Konsequenzen.

Der Dokumentarfilm „Zu jeder Zeit“ begleitet die Ausbildung der medizinischen Pfleger. Dem Regisseur Nicolas Philibert kam das Thema mit einem persönlichen Erlebnis nahe. Mit einer Embolie kam er 2016 in die Notaufnahme und gelangte auf die Intensivstation. Die Leistung des Krankenhauspersonals hat ihn beeindruckt. „Als ich wieder auf den Beinen war, entschied ich mich dazu, diesen Film zu machen, als Tribut an die Pflegekräfte.“

Das Institut de la Croix Saint-Simon ist ein Ausbildungskrankenhaus in der Nähe von Paris. Mit neunzig Lehrlingen pro Klasse ist es mittelgroß. In den Lehrgruppen sind alle Hautfarben, Gesichtsschnitte und Körpergrößen vertreten. Da kann es problematisch werden, wenn eine kleine Inderin eine riesige Afrikanerin aufrichten muß, um sie von der Liege in den Rollstuhl zu bewegen. Allerdings kann ihr die Simulantin nicht entgleiten. Denn noch werden alle Verrichtungen wechselseitig von den Schüler aneinander erprobt.

Sehr schnell und pragmatisch rollen die Vorlesungen ab. Die Ausbilderin liest den Zuhörern die Verhaltensregeln aus einem Buch vor. Die jungen Leute schauen nachdenklich vor sich hin, während ihnen die Bestimmungen über den Umgang mit Sterbenden nahegebracht werden. Sie werden angewiesen, alle Patienten gleich zu behandeln und sich nichts anmerken zu lassen. Bei Gestank sollen sie unauffällig durch den Mund atmen. Der Umgang mit Stichwunden wird erörtert. Das Objekt sei in der Wunde stecken zu lassen, damit das Blut nicht herausschießt. Wenn ein Neugeborenes nicht atmet, sei ihm als Impuls in die Nase zu blasen. Angesichts einer allgemeinen Gereiztheit und Nervosität in den gesellschaftlichen Verhältnissen kann man sich wundern, daß es Leute gibt, die fraglos und klaglos den Laden am Laufen halten. Die Helfer der medizinischen Versorgung gehören dazu.

Die Kranken stimmten dem Projekt spontan zu

Der Film ist in drei Teile gegliedert. Auf die theoretischen Einweisungen, gegenseitigen Übungen und die Erprobungen an Modellen und Puppen folgt die ernsthafte Anwendung auf der Station oder in der Therapie. Im letzten Teil wird die Situation der Lernenden im Gespräch mit ihren Instruktoren ausgewertet. Dabei kommen auch die persönlichen Empfindungen und privaten Probleme zur Sprache.

Außer im Abspann enthält der Film keinerlei Musik. Philibert erläutert: „Der Soundtrack ist mit Absicht unordentlich. Er besteht fast ausschließlich aus direkten Geräuschen, der Körnung der Stimmen. Nicht der kleinste Effekt, keine Künstlichkeit. Formal gesehen ist es ein sehr einfacher Film, ohne Rüschen. Ich wollte, daß wir so nah am Gesagten bleiben wie möglich.“ Eine Kamera schaut zu, und wir sind Zeugen. Der individuelle Blick wird dadurch bekräftigt, daß der Regisseur sowohl selbst filmt, als auch sein Material schneidet.

„Zu jeder Zeit“ läßt die Arbeiter im Hintergrund sichtbar werden. Dazu mußte auch das Einverständnis der Kranken gewonnen werden. „Fast jeder, auf den ich zuging, stimmte spontan zu. Sobald ich erklärte, was wir taten, sagten sie: ‘Nur zu! Das ist wichtig! Wir brauchen die Pflegekräfte!’ Ich mußte nie insistieren“, berichtet Philibert.

So können wir sehen, wie die jungen Leute an hinfälligen Körpern hantieren, aber auch Kindern die Gipsverbände abnehmen. Das Krankenhaus ist ein Ort, an dem zu jeder Zeit die Schranken der menschlichen Existenz erkennbar sind, im Helfen wie im Erleiden. Dieser Umstand erhebt das Werk über ein bloßes Dokumentieren der Berufsausübung: „Über die Pflegeausbildung hinaus spricht der Film mit uns über unsere menschliche Verletzlichkeit.“ Die Kranken werden aus ihrem Zustand ja erlöst, die Alten unter ihnen zuweilen vom Tod, die Jungen zumeist durch rasche Heilung. Alle verlassen sie das Hospital, in dem die Krankenpfleger über Jahrzehnte ausharren müssen. Sie haben sich zurechtzufinden mit der Zersetzung und dem Verfall, die ihnen alltäglich gegenüberstehen. Der Film handelt auch von dieser Gewöhnung.

Den jungen Leuten, so ungeschickt sie sich gelegentlich gebärden, können die Achtung und das Mitgefühl ebensowenig versagt werden wie den alten Menschen, die sich geduldig in ihre Lage schicken und das Tasten der Novizen mit milder Gelassenheit quittieren. „Bin ich ihr Versuchskaninchen?“ Ein über und über tätowierter Patient erwidert auf die Frage nach seiner Angst vor der Injektion, er liebe Nadeln.

Kurze Einschübe lockern die Handlung auf. Die Lehrlinge sind in der Kantine versammelt, wo es sehr laut und sehr eng ist. Im stillen Park einer psychiatrischen Einrichtung begleitet einer der jungen Männer eine ältere Frau. Philibert überlastet seine filmische Betrachtung des Sachstandes weder mit Kommentaren noch Vorwürfen. Diese Szenen stehen für sich. 

Kinostart am 2. Mai 2019

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