© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/19 / 03. Mai 2019

Schicksalhafte Bewährungsprobe
Literaturgeschichte: Vor dreihundert Jahren erschien Daniel Defoes Welterfolg „Robinson Crusoe“
Heinz-Joachim Müllenbrock

Als Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“ mit seinem ellenlangen, bereits abenteuerliche Spannung ankündigenden Titel vor 300 Jahren erschien, war ein Welterfolg geboren worden. Die sofort einsetzende Wirkungsgeschichte, die sich bis heute in zahllosen Neuausgaben, Bearbeitungen, Nachahmungen und Übersetzungen niederschlägt, manifestierte sich im 18. Jahrhundert in ihrer ganzen Breite in den populären „chapbooks“, die das Geschehen auf wenigen Seiten zusammenfaßten und von Straßenhändlern feilgeboten wurden. Besonders jugendliche Leser haben diesen Roman verschlungen, aber auch mancher erwachsene Leser wird den Atem angehalten und Robinsons quälende Unruhe nachempfunden haben, als dieser nach siebenjährigem Inselaufenthalt das furchtbare Zeichen der Fußstapfen entdeckte. 

„Robinson Crusoe“ richtet sich aber keineswegs primär an ein jugendliches Publikum. Mit Jonathan Swifts „Gulliver’s Travels“ (1726) teilt Defoes Roman das Schicksal, weltweit als Kinder- und Jugendbuch rezipiert worden zu sein, büßt aber in dieser verkürzten Fassung wesentliche Aspekte seiner Substanz ein. Defoes erster Roman spannt nämlich ein weites Panorama kultureller und gesellschaftlicher Aspekte auf; erst dadurch konnte er Einfluß auf intellektuelle Großkopfeten verschiedenster Fasson ausüben, erst dadurch wurde er zum Bezugspunkt geistiger Auseinandersetzungen.

Im Ton trockener Berichterstattung erzählt

1719, im Erscheinungsjahr „Robinson Crusoes“, war Defoe der Öffentlichkeit bereits als ein vielfältige aktuelle Themen behandelnder Publizist bekannt. So hatte er sich insbesondere als politischer Journalist in die erbitterten Debatten um die Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges eingeschaltet und die Review (1704–1713), eine der wichtigsten Zeitschriften der Zeit, im Alleingang geschrieben  –  eine Bravourleistung.

Als Defoe, ähnlich wie Fontane, im Alter von 60 Jahren begann, Romane zu verfassen, bedeutete das keinen entwicklungs- oder stilgeschichtlichen Bruch, denn der Journalist war im Romancier gut aufgehoben. Das als Journalist offenbarte Bestreben, das tatsächliche Leben seiner Gegenwart in allen seinen Aspekten kennenzulernen und mit der Feder festzuhalten, eine immer extensivere Kenntnis der Wirklichkeit zu erlangen, übertrug er jetzt auf die Literatur.

Wie Swift in „Gulliver’s Travels“ knüpft Defoe an die zeitgenössische Reiseliteratur an. Ein Bindeglied zu „Robinson Crusoe“ bildet die von dem Wochenschriftenautor Richard Steele in seiner Zeitschrift The Englishman (3. Dezember 1713) erzählte Geschichte eines gewissen Alexander Selkirk, der ein mehrjähriges elendes Dasein auf einer einsamen Insel im Pazifik überstanden hatte.

Die im Ton trockener Berichterstattung erzählte, Authentizität suggerierende Geschichte Robinsons verrät noch den Reporter. Robinsons verzweifelter Kampf um physisches und psychisches Überleben wird mit kaum zu überbietender Eindringlichkeit vergegenwärtigt.

Der Reiz der Darstellung beruht ganz wesentlich darauf, durch die genaueste Aufzeichnung äußerer Details nachvollziehbar zu machen, wie Robinson der feindlichen Natur und unwirtlichen Wildnis Schritt für Schritt eine gesicherte Lebensmöglichkeit und einen Bereich der Zivilisation abringt. Die Schilderung dieser rastlosen, alle Anfechtungen abwehrenden Selbstbehauptung erreicht anthropologische Tiefe und betrifft eine Grundbefindlichkeit der Existenz des Menschen, der sich immer wieder gegenüber neuen Herausforderungen durchsetzen muß. Defoes Held ist also keineswegs nur oder auch primär der hartherzige Kapitalist, zu dem ihn Ian Watt in seinem bekannten Buch „The Rise of the Novel“ (1957) reduzieren wollte.

Eine Leitfigur zur patriotischen Identifizierung

Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, daß Robinsons Verhältnis zu anderen Menschen rein funktional ist. Auch Freitag ist für ihn fast ausschließlich als Arbeitspartner oder Missionsobjekt interessant. Defoes Roman mit seiner Scharfeinstellung auf den belastenden Daseinskampf des Helden und einer für englische Autoren untypischen Humorlosigkeit ist eine gewisse Verengung des Menschenbildes eingeschrieben.

Mit seinem von zivilisatorischem Elan getriebenen Protagonisten, den ein Hauch Carlyleschen Heldentypus umweht, hatte Defoe zugleich eine Leitfigur geschaffen, die zur patriotischen Identifizierung einlud. Jedenfalls ist Robinson, auf Illustrationen oft mit seinem Sonnenschirm abgebildet und von seinem treuen Diener Freitag umgeben, in das nationale Gedächtnis seiner Landsleute als Emblem des allen Widrigkeiten trotzenden kolonialisierenden Engländers eingegangen, als prototypische Verkörperung des Inselvolkes mit seinem Pioniergeist und Wirklichkeitssinn. In der Fortsetzung „The Farther Adventures of Robinson Crusoe“ (ebenfalls 1719 erschienen) läßt Defoe in Anlehnung an die politische Philosophie John Lockes Robinson sogar einen regelrechten Inselstaat errichten, ein literarischer Vorlauf der sich ankündigenden imperialistischen Expansion.

Robinsons gesellschaftsferne Insel-existenz wurde im 18. Jahrhundert zum Auslöser für spekulatives, den Geist der Aufklärung widerspiegelndes Geschichtsdenken. Den Anfang machte Jean-Jacques Rousseau, der in seinem Erziehungsroman „Emile“ (1762) den ungebundenen Naturzustand Robinsons verherrlichte und in Defoes Helden das aus allen korporativen Fesseln befreite bürgerliche Individuum vor sich zu haben glaubte. Rousseaus Deutung des Defoeschen Helden als Naturmenschen schlossen sich die Vertreter des deutschen Philanthropismus wie Joachim Heinrich Campe mit seiner Erzählung „Robinson der Jüngere“ (1779/80) an. Da Robinson Tätigkeiten wie die des Landbestellers, Viehzüchters, Handwerkers und Schiffbauers in sich vereint, die in einer zunehmend arbeitsteiligen Gesellschaft nicht mehr von einer Person ausgeübt wurden, durchschritt er nach Auffassung seiner idealistischen Interpreten noch einmal die Entwicklung der Menschheit vom Urzustand bis zur Zivilisation. Noch der schottische Nationalökonom Adam Smith, Autor von „The Wealth of Nations“ (1776), benutzte Robinson als Anschauungsexemplar für seine liberal-indivualistischen Gesellschaftstheorien.

Die zweifellos unhistorische Ansicht eines die Entwicklungsstufen der Menschheit noch einmal durchlaufenden Robinson, der ja das Schiffswrack ausschlachtet, was ihm den Anschluß an die damalige Zivilisation gestattet, wurde erst von Karl Marx korrigiert. Im ersten Band von „Das Kapital“ charakterisiert er korrekt den dissenterischen Helden Defoes mit seinem pragmatischen Kaufmannssinn.

Robinson verkörpert nämlich das puritanische Erbe des Dissenters Defoe. Wie der Beginn des berühmten Inseltagebuchs zeigt, fließen bei Robinson kaufmännische Buchführung und seelische Rechenschaftslegung ineinander; Materielles und Spirituelles durchdringen sich. Max Weber hat in seiner Abhandlung „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904/05) nachgewiesen, daß gerade nach puritanisch-calvinistischer Auffassung die methodische Berufsarbeit der Mehrung von Gottes Ruhm dienen sollte und die puritanischen Gläubigen, durch die Prädestinationslehre von der Gnadenwahl zusätzlich motiviert, zu einer systematisch durchgebildeten, rationalen Lebensführung angehalten werden sollten.

Durchrationalisierter Tagesverlauf

Ein solches Muster der Lebensordnung ist in Defoes Roman noch spürbar; Robinsons Inseldasein steht im Zeichen eines voll durchrationalisierten Tagesverlaufs, der seine  gesamte Existenz im Sinne einer aktiven, aber asketischen Lebensführung bis ins letzte ordnet. Defoes Roman atmet etwas von dem wirtschaftlichen Betätigungsdrang, der das englische Bürgertum erfüllte, und selbst in der Einsamkeit ist Robinson von puritanischer Sehnsucht nach irdischem Erfolg gequält, den er nur durch Gottes providentielle Fügung erlangen kann, auf die er nach seinem Gnadenerlebnis hoffen darf.

„Robinson Crusoe“ ist ein Roman von beachtlicher Komplexität, auch wenn klassisch gebildete Zeitgenossen wie der Dichter Alexander Pope die Nase über Defoe rümpften. Als erster wichtiger englischer Roman des 18. Jahrhunderts darf er bezeichnet werden, weil er erstmals die Welt der gegenständlichen Erfahrung ins Zentrum romanhaften Erzählens rückt. Ähnlich wie Cervantes mit seinem „Don Quijote“ hat Defoe ein universales Paradigma menschlichen Verhaltens in einer schicksalhaften Bewährungsprobe geschaffen. Mit seinem eponymen Titel wurde dieser Roman sogar zum Namensgeber einer ganzen literarischen Gattung, der die anthropologische Thematik des Ausgangswerks fortschreibenden Robinsonade. Seines Publikums kann sich „Robinson Crusoe“ dank seiner vielschichtigen, Leser unterschiedlichster Interessen anziehenden Ausstrahlung auch in Zukunft gewiß sein.






Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über den Brexit (JF 14/19).