© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/19 / 10. Mai 2019

„Alle sehen es – jeder schweigt“
Ist unser Kontinent dabei, „Selbstmord“ zu begehen? Das meint der britische Publizist und Einwanderungskritiker Douglas Murray in seinem Buch „The Strange Death of Europe“ zu beobachten, das inzwischen auch auf deutsch vorliegt
Moritz Schwarz

Herr Murray, Sie sehen Europa zwischen Massenzuwanderung und Identitätsverlust untergehen. Aber haben wir es tatsächlich mit „Selbstmord“ zu tun oder mit „Mord“?

Douglas Murray: Gute Frage, was denken Sie? 

Liest man Ihr Buch, erscheint im einen Moment das eine plausibel, im nächsten das andere. 

Murray: Von dem Geschichtsphilosophen Arnold Toynbee stammt das Diktum: „Zivilisationen werden nicht ermordet, sie begehen Selbstmord.“ Jedoch werde ich genau das immer wieder von meinen Lesern gefragt. 

Also ist der Fall doch nicht so eindeutig?

Murray: Es gibt bei jeder meiner Lesungen in der Fragerunde mindestens einen Besucher, der wissen will, ob dem ganzen nicht eine Verschwörung zugrunde liegt. Ich glaube das nicht, ich sehe vielmehr so etwas wie ein großes Drama. 

Zu Beginn hat Ihr Buch in der Tat eine unerwartete poetische Melancholie – handelt es sich strenggenommen gar nicht um ein Sachbuch?    

Murray: Das Buch enthält verschiedene Elemente, denn ich bemühe mich so zu schreiben, daß der Text den Leser gefangenhält. Vor allem aber wollte ich das Buch nicht einfach vom Schreibtisch aus verfassen. Deshalb war ich mehrere Jahre auf dem Kontinent unterwegs, auch in Winkeln, die ich sonst wohl nie besucht hätte. Ich habe vor Ort mit Politikern, Offiziellen, Fachleuten, aber auch einfachen Menschen gesprochen, die den Wandel am unmittelbarsten erleben – bis hin zu den Migranten, die mitunter erst wenige Stunden zuvor in Europa angekommen waren. 

Was haben Sie entdeckt?

Murray: Daß das, was da mit Europa vor sich geht nicht nur, wie manche meinen, darin begründet liegt, daß Politiker falsche Entscheidungen treffen – wie jene der deutschen Regierung im Herbst 2015. Auch wenn ich damals vor dem Fernseher saß und dachte: Irrsinn! Nein, da ist viel mehr – der Selbstmord unseres Kontinents reicht so viel tiefer! 

Inwiefern?

Murray: Es ist nicht einfach eine Frage von Politik, es ist unsere Zivilisation an sich, die dabei ist, Selbstmord zu begehen. Es ist Europa selbst, das kaum noch den Wunsch zeigt, fortzubestehen, sich fortzupflanzen oder für sich zu kämpfen. Und etliche glauben gar, daß es auch gar kein Verlust wäre, würden die Europäer und ihre Kultur der Welt verlorengehen.

Was ist die Ursache dafür?  

Murray: Ich glaube, daß uns die Gemeinsamkeiten verlorengegangen sind. Die einzige, die wir noch haben, ist die Ächtung des Faschismus. Und wie das so ist, wenn einem alles andere abhanden kommt, an das letzte was man noch hat, klammert man sich um so verzweifelter. Im Original heißt mein Buch ja „The Strange Death of Europe“, also „Der seltsame Tod Europas“. Das ist zwar eigentlich eine Anspielung auf das brillante Buch „The Strange Death of Liberal England“ des Historikers George Dangerfield, das in Großbritannien ein Referenzwerk ist, aber es trifft gleichzeitig auch genau meinen Punkt. Nämlich, daß sich der Untergang, den wir erleben, höchst „seltsam“ vollzieht. In einer sehr merkwürdigen Mischung aus politischem Unvermögen, Blauäugigkeit, guten, doch fatalen Absichten, wie auch manch böser Absicht, Brillanz und Einfalt nahe beieinander. Und obendrein befindet sich diese wilde Mischung quasi in einem Crescendo der Seltsamkeit, insofern diese immer weiter zunimmt. 

Während Sachbücher sonst nüchtern ihren Gegenstand sezieren, wirkt Ihr Buch eher wie ein Kolossalgemälde, das etwas Schicksalhaftes fassen will.

Murray: Das sind ja auch oft Dinge, die wirklich kaum zu erklären sind. Denken Sie etwa an jene Flüchtlingshelferinnen, die, von Migranten vergewaltigt, beschlossen, zu schweigen – aus Angst, sonst den Rassismus zu befördern. Was ist das? Ist das Masochismus? Ist das Sadismus? Nun, wie sagt man bei uns: Was eigentlich ist der Tanz und was der Tänzer? Allerdings – wissen Sie, was mich fast noch mehr erstaunt als all das?

Bitte.    

Murray: Daß das alles für jeden sichtbar ist und die meisten doch dazu schweigen. Öffentlich tun wir so, als nähmen wir das alles gar nicht wahr. Und wagt doch einmal jemand, darauf hinzuweisen, dann zur Sicherheit meist in nur sehr oberflächlicher Art. Dabei bin ich überzeugt, daß alles, was ich schreibe, keine Minderheitenmeinung ist. Ich glaube wirklich, die Mehrheit der Bürger der europäischen Länder würde mir zustimmen. Und dabei ist mein Buch ja alles andere als politisch-korrekt, ganz im Gegenteil! 

Das, was die Mehrheit denkt, wäre demnach eine dissidente Meinung. Wie ist das in freiheitlichen Demokratien möglich? 

Murray: Wissen Sie, als Kind erlebte ich, wie eine Frau erwog, sich zu weigern, neben einem anderen Mitglied unserer Kirchengemeinde das Abendmahl zu empfangen. Dabei handelte sich um den konservativen Politiker Enoch Powell, der in Großbritannien in puncto Einwanderungsfrage ausgesprochen umstritten war. So lernte ich früh schon das enorme Tabu um diese Themen kennen: daß es etwas enorm Gefährliches hatte, sich diesbezüglich frei oder gar kritisch zu äußern, man sich damit dem Vorwurf der Unmoral und der Gefahr allgemeiner Ächtung aussetzte.

Als „offizieller“ Stand der Debatte in Deutschland gilt, daß es solche Tabus nicht gibt, die Diskussion frei ist. 

Murray: Nein, diesen Tabus entkommen Sie nur, wenn Sie die Debatte nicht führen. Was Sie dann tun können, wenn Sie in einer großen Stadt leben, weil man dort ab einem gewissen sozialen Niveau den Konsequenzen der Masseneinwanderung ausweichen kann – etwa indem man in ein bestimmtes Viertel zieht oder sich nur innerhalb einer gewissen Gesellschaftsschicht bewegt. In kleinen Gemeinden dagegen, ist es unmöglich, dem auszuweichen. Masseneinwanderung verändert dort unweigerlich alles fundamental. Ohne, daß jemand die Menschen, die dort leben, zuvor gefragt hätte, ob sie damit auch einverstanden sind – oder auch nur einmal mit ihnen darüber gesprochen hätte. Und für jene Menschen, die mit dieser fundamentalen Veränderung ihrer Welt nicht einverstanden sind, gibt es kein öffentliches Verständnis, weder für ihre Wünsche noch für ihre Probleme. Im besten Fall erleben sie, daß ihre Ansicht und Empfindungen nicht zählen und ignoriert wird. Sollten sie es aber wagen, ihr Unbehagen auch nur flüsternd zu äußern, wird man sie spüren lassen, daß die Gesellschaft sie als schreckliche und abscheuliche Personen betrachtet. 

Auch Sie gelten inzwischen vielen als eine solche. 

Murray: Mir Rassismus vorzuwerfen, ist nun wirklich vollkommen lächerlich. Ich komme aus London und bin multiethnisch aufgewachsen. In meinem Freundeskreis gab es so viele Farbige, daß wir nicht einmal mehr bemerkten, daß da welche waren. Verstehen Sie? Es war so normal, daß wir ihre Farbigkeit nicht wahrnahmen.

Wieso wird Ihnen dennoch vorgeworfen, „Rassist“ zu sein?

Murray: Weil wir einen Zustand zugelassen haben, in dem bestimmte Vorwürfe sowohl sozial vernichtend, als auch fast unwiderlegbar sind. Wenn Sie etwa jemanden als Pädophilen bezeichnen, müssen Sie den Nachweis erbringen. Andernfalls stehen Sie als Verleumder da. Nennen Sie ihn aber – völlig zu Unrecht  – einen Rassisten, gilt das nicht und es ist für das Opfer auch fast unmöglich, dies zu widerlegen. Selbst wenn er farbige Freunde vorweisen kann oder sich ehrenamtlich für Farbige eingesetzt hat, nützt ihm das nichts – ich kenne so einen Fall persönlich. Ja, nicht einmal mit einem farbigen Partner sein Leben zu teilen schützt davor. Denn dann heißt es, das sei nur Tarnung. Ein Freund von mir hat gemischtrassige Kinder – selbst er wurde schon als Rassist diffamiert.  

Also ist Europa fest in einem ideologischen Würgegriff und unrettbar verloren?

Murray: Ich wünschte, daß mein Buch das verhindern könnte – daß viele unterschiedliche Menschen es lesen. Denn ich habe mich bemüht, alle Seiten zu betrachten. Ich versuche jene verständlich zu machen, die sagen: „Wir können keinen mehr reinlassen!“ Wie auch jene, die sagen: „Laßt sie zu uns kommen!“ Und trotz aller Kritik habe ich auch für die Vertreter dieser Haltung  eine Sympathie. Denn ich bin auch ans Mittelmeer gereist, zu den Migranten und habe in ihre Gesichter gesehen. Ich verstehe die menschlichen Gefühle dahinter. Ich verstehe, daß man Sympathie und eine Solidarität mit Menschen hat, von denen etliche mit so vielen Hoffnungen zu uns nach Europa kommen. Und wenn Sie den einzelnen kennenlernen, würden auch Sie wünschen, daß es für ihn einen Platz in Europa geben mag. 

Warum kritisieren Sie dies dann so hart? 

Murray: Weil ich weiß, daß es ein unmögliches Versprechen ist, diesen Leuten die Erfüllung all ihrer Hoffnungen in Aussicht zu stellen. Es ist menschlich, dazu zu neigen, dies zu tun. Wenn man einem Menschen ins Antlitz sieht, möchte man ihn nicht enttäuschen. Vielleicht, weil wir alle die Neigung haben, von der Erfüllung unserer unmöglichen Hoffnungen zu träumen. Doch in der realen Welt haben die Dinge nun mal Konsequenzen. Und so folgen beide Seiten, jene, die den Einwanderern die Grenzen öffnen, als auch jene, die sie ihnen verschließen wollen, einem zutiefst menschlichen Impuls.   

Wenn Sie selbst hin und her gerissen sind, was ist dann Ihre Antwort?

Murray: Das Problem in seiner Gesamtheit zu sehen! Dann würde klar, daß sowohl das „Alle rein!“ wie auch das „Alle raus!“ unmögliche Träume sind. Setzte sich diese Erkenntnis endlich durch, könnte man darangehen, nach einer wirklich ethischen Antwort auf die Herausforderung zu suchen. Und so auch zu verhindern, daß die falschen Leute sie schließlich geben. Denn die Massenzuwanderung zu beenden um den Preis der Machtübernahme durch Extremisten wäre für Europa so vernichtend wie die Fortsetzung der Masseneinwanderung. Es geht mir also nicht um ein Zurück in eine Welt, in der alle weiß sind. Es geht darum, daß Einwanderung und Verlust unserer Identität inzwischen ein Ausmaß erreicht haben, bei dem keiner mehr weiß, welches Ende diese Entwicklung einmal nehmen wird. 

Was konkret bedeuten soll? 

Murray: Daß es vielleicht ja funktionieren mag, was sich die Vertreter des Multikulturalismus vorstellen. Doch was ist, wenn nicht? Wir wissen, daß Situationen lange ruhig sein und sich dann blitzschnell entzünden können. Denken Sie an die interethnischen Bandenkriege in Nordengland, die mitunter wie aus dem Nichts ausbrechen. Es genügt, daß ein Mitglied der einen Bande eines einer anderen Bande vergewaltigt und wir haben einen Krieg! Es ist, als setzte man Haus und Hof in einer Wette ein. Es kann gutgehen – oder auch nicht. Was, wenn es schiefgeht? Was ist dann mit unserem Land? Und was mich obendrein besorgt, ist die Reaktion auf die Anzeichen dafür, daß es tatsächlich nicht klappen könnte, von denen es ja etliche gibt. Nämlich, einfach nicht darauf zu reagieren und vorsichtiger zu werden. Statt dessen werden sie meist ignoriert – so als gäbe es die Gefahr, daß das Experiment schiefgehen könnte, gar nicht!

Was ist Ihr Fazit? 

Murray: Wir erleben eine Zeit, in der sich unsere Länder grundlegender denn je verändern. Wie das ausgeht, weiß ich nicht. Was ich aber zu wissen glaube ist, daß die Versuche, die Europäer weiterhin darüber hinwegzutäuschen, auf Dauer nicht durchzuhalten sind und daß es deshalb nicht gelingen wird, sie langfristig davon abzuhalten, ihre eigenen Erfahrungen mit diesen Veränderungen zu machen und ihre eigenen Schlüsse daraus zu ziehen. 






Douglas Murray, ist Mitherausgeber des britischen Nachrichtenmagazins The Spectator und Direktor der von ihm mitgegründeten, als konservativ geltenden Denkfabrik Henry Jackson Society in London. Er publizierte in verschiedenen Zeitungen wie dem Guardian, der Sunday Times oder dem Wall Street Journal und war mehrfach im britischen Fernsehen zu Gast (BBC Question Time, Newsnight, HardTalk etc.) – sowie als Vortragsredner im britischen und im Europäischen Parlament und im Weißen Haus. 1979 in London geboren, studierte der heute offen homosexuell lebende Eton-Absolvent in Oxford Anglistik. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter „Neoconservatism. Why We Need It“ (2005), „Islamophilia. A Very Metropolitan Malady“ (2013) und „The Strange Death of Europe“ (2017), das 2018 unter dem Titel „Der Selbstmord Europas. Immigration, Identität, Islam“ im Finanzbuchverlag in der „Edition Tichys Einblick“ auf deutsch erschienen ist. 

Foto: Westeuropa und seine Menschen: „Es ist nicht einfach eine Frage von Politik, es ist unsere Zivilisation an sich, die dabei ist, Selbstmord zu begehen. Es ist Europa selbst, das kaum noch den Wunsch zeigt, fortzubestehen“

 

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