© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/19 / 10. Mai 2019

An den Verlusten wachsen müssen
Kirchenstudie: In Deutschland gibt es immer weniger Christen / Demographie ist nicht der einzige Grund
Gernot Facius

Die Prognosen sind düster: Die Zahl der Katholiken und Protestanten in Deutschland wird, folgt man einer Studie des Freiburger Forschungszentrums Generationenverträge, bis 2060 auf 22,7 Millionen sinken – 2017 waren es noch 44,8 Millionen. Gleichzeitig werde die Finanzkraft der Kirchen um 51 Prozent zurückgehen. Diese Voraussagen sind nicht ganz neu, das erklärt vielleicht die eher unaufgeregten Kommentare der Kirchenoberen. Man gerate „nicht in Panik“, sagte Kardinal Reinhard Marx. Ähnlich äußerte sich der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm.

Taufe im Säuglingsalter wird vermehrt zur Ausnahme

Drei Faktoren bestimmen den kontinuierlichen Abwärtstrend: Alterung, Austritte und Taufunterlassungen. Markantester Befund: Anders als bislang vermutet, betrachten die Freiburger Forscher um Bernd Raffelhüschen den demographischen Wandel nicht als die entscheidende Triebfeder des stetigen Mitgliederverlusts. Er sei lediglich zu einem Drittel für die prognostizierte Entwicklung verantwortlich. Raffelhüschen stimmt das „hoffnungsvoll“, er erkennt „beeinflußbare Effekte“. 

Daß der Kirchenaustritt häufig mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter zusammenfällt und gut ausgebildete junge Menschen sich verabschieden, sollte den Verantwortlichen in den Kirchenkanzleien zu denken geben. Es gehe jeweils nicht nur ein Kirchenmitglied (und Kirchensteuerzahler) verloren, sondern oft auch dessen Nachwuchs, der meist nur wenige Jahre später geboren werde. Was jeder Turnverein mache, sollten sich auch die Kirchen überlegen: Bei den Austrittsgeneigten „noch einmal nachfassen“. Besonders austrittsgeneigt sind nach Beobachtungen der Freiburger Forschergruppe männliche Kirchenmitglieder im Alter zwischen 25 und 29 Jahren. Drei Prozent dieser Gruppe kehrten Jahr für Jahr ihrer christlichen Glaubensgemeinschaft den Rücken – „ein extrem hoher Wert“.

Die Studie macht auch auf ein verändertes „Taufprofil“ aufmerksam. Die Taufe im Säuglingsalter, einst die Regel,  wird mehr und mehr zur Ausnahme. Die Entscheidung für oder gegen die Taufe hängt im übrigen sehr vom Grad der kirchlichen Sozialisation der Eltern und ihrer Familien ab; hier hat sich einiges verschoben. Die Wissenschaftler weisen auf eine weitere gravierende Veränderung hin: In den evangelischen Landeskirchen finden heute rund neun Prozent aller Taufen im Zusammenhang mit der Konfirmation statt, also im Alter von 14 Jahren. Eine ähnliche, wenn auch im Effekt weniger starke Entwicklung läßt sich in der katholischen Kirche beobachten. In ihr steigt die Taufquote im Zusammenhang mit der Erstkommunion (neun bzw. zehn Jahre).

Die Ergebnisse der Freiburger Studie lassen sich als Appell an beide Großkirchen deuten, den Handlungsbedarf zu erkennen und nicht im Abwarten zu verharren. Der Grundstein für eine einigermaßen sichere Zukunft könne nur an der Basis mit einer überzeugenden Verkündigung gelegt werden, „nicht mit Organigrammen“, kommentiert auch die FAZ. Im Klartext: Besinnung auf den kirchlichen Kernauftrag. 

 Wie immer man es wendet: Die Christen in Deutschland werden rein zahlenmäßig zur Minderheit werden, sie werden, wenn eines Tages der Strom der Kirchensteuer nicht mehr so fließt wie in Zeiten der Hochkonjunktur, über alternative Finanzierungsquellen nachdenken müssen.  

Das muß alles nicht unbedingt gleich negativ sein. Denn ein Konventionschristentum wird den religionsfeindlichen oder atheistischen Stürmen auf Dauer nicht trotzen. Die Vorstellung von der „kleinen Herde“ nimmt immer mehr Gestalt an, auch wenn die für das Jahr 2060 prognostizierten 20 Millionen Mitglieder noch immer eine potente gesellschaftliche Kraft sein werden. Aber diese 20 Millionen werden als Minderheit auf die Kraft ihrer Argumente und ihres gelebten Beispiels werden bauen müssen, nicht mehr auf „die Macht der Institution“, schreibt die Süddeutsche Zeitung.

Es wird in der Tat vom Vertrauen abhängen, das Menschen in die Kirchen setzen können. Damit dies gelingt, müssen Fehler, Versäumnisse, vor allem aber die Fälle sexuellen Mißbrauchs, ohne Wenn und Aber aufgeklärt werden. Vor mehr als zehn Jahren wurden die Bischöfe erstmals mit diesem dunklen Kapitel konfrontiert. „Aufgearbeitet“ ist das Problem bis heute nicht. Der Vertrauensverlust ist immens. Angesichts der Mißbrauchsthematik plädiert selbst der im Vatikan gut vernetzte Kölner Psychotherapeut und Theologe Manfred Lütz dafür, daß der Staat die Aufarbeitung übernehmen müsse. „Die Kirchen haben gezeigt, daß sie das nicht hinbekommen“, verdeutlichte er im evangelischen Magazin chrismon. Von einem Reputationsverlust spricht auch das EKD-Ratsmitglied Andreas Barner: „Wenn wir das Vertrauen verlieren, kann das zu disruptiven Ereignissen führen.“ Was er im einzelnen meint, ließ der erfahrene Manager offen. Wie auch andere Sachkenner treibt ihn die Sorge um, daß der kirchliche Reputationsverlust eine verstärkte Debatte über  alte staatskirchenrechtliche Regelungen heraufbeschwört, Staatsleistungen und Kirchensteuereinzug durch den Staat politisch auf den Prüfstand kommen.