© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/19 / 10. Mai 2019

Schlesische Sachlichkeit
JF-Reportage: AfD-Kandidat Sebastian Wippel könnte am 26. Mai der neue Görlitzer Oberbürgermeister werden
Björn Harms

Im ostsächsischen Görlitz geht es an diesem 1. Mai eher gemütlich zu. Das Wetter ist durchwachsen, bis eben hat es noch geregnet. Nur schleppend tasten sich erste Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke über der Neißestadt. Ganz allmählich füllt sich auch der Platz des 17. Juni, auf dem der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) für heute zur Maifeier geladen hat. Hinter den Info-Ständen von CDU, SPD, Grünen und Linken versucht Zirkusclown Ferdi unter größten Mühen, herumwuselnde Kinder bei Laune zu halten. Alles ist bereit für ein geruhsames Familienfest. Plötzlich aber fangen die Leute an zu tuscheln. Ein ungebetener Gast betritt den Vorplatz.

Sebastian Wippel, sportliche Erscheinung, akkurate Kurzhaarfrisur, schlendert unter wachsamen Blicken mit einem Lächeln durch die Menge. Der 37jährige ist sächsischer Landtagsabgeordneter der AfD – und  beim anwesenden links-grünen Bürgertum dementsprechend beliebt. Wippel tritt am 26. Mai, dem Tag, an dem auch die EU-Wahl stattfindet, in seiner Heimatstadt zur Oberbürgermeisterwahl an – und könnte seiner Partei mit einem Sieg ein Novum bescheren. 

Sachsens Ministerpräsident verlor hier Direktmandat

Zwar wechselte bereits 2016 ein Bürgermeister im vogtländischen Reuth von der Deutschen Sozialen Union (DSU) zur AfD über, ein anderer trat im März 2018 in Burladingen (Baden-Württemberg) in die Partei ein. Die direkte Wahl aber, noch dazu in einer Stadt wie Görlitz, wäre ein ganz anderes Kaliber. Und die Chancen für den gelernten Diplom-Verwaltungswirt und Polizeikommissar stehen nicht schlecht. Schon bei der Bundestagswahl 2017 gelang seiner Partei hier ein Coup. Tino Chrupalla vollbrachte das Kunststück, dem heutigen sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) nach 15 Jahren das Direktmandat abzunehmen. Im Stadtgebiet erhielt die AfD 31,5 Prozent der Zweitstimmen und lag damit sechs Punkte vor der CDU.

Sebastian Wippel muß an diesem Mittwoch, anders als die restlichen Kandidaten für den Bürgermeisterposten, seinen Wahlstand rund 100 Meter hinter dem Stadtfest aufstellen. Auch zur Podiumsdiskussion am Nachmittag wird er nicht eingeladen. Das Schreckgespenst AfD will offenbar niemand vor Ort haben. Doch Wippel dreht den Spieß um und taucht unangekündigt auf der DGB-Veranstaltung auf. Sonderlich provokativ wirkt er dabei nicht, eher behutsam. Zum Überraschungsbesuch mußte er von mehreren Parteikollegen erst überredet werden. Ganz geheuer scheint ihm die ungefragte Aufmerksamtkeit dann doch nicht zu sein. 

Stattdessen versucht er mit den Stadtfestbesuchern ins Gespräch zu kommen und sachlich für seine Positionen zu werben. Als erstes stellt sich ihm eine SPD-Lokalpolitikerin in den Weg. „Ihr habt keine Lösungen, nur Schuldige“, wirft sie Wippel aufgeregt vor. „Das stimmt doch gar nicht“, entgeget der leicht genervt. In der Folge entwickelt sich ein kurzweiliges Gespräch, in dem der AfD-Politiker versucht, unterschiedlichste Anschuldigungen zu entkräften. Eine gemeinsame Basis findet man jedoch nicht. Auch ein Besuch am Stand der Linkspartei verläuft erstaunlich gelassen, aber ergebnisarm.

Überhaupt ist Wippel ein eher ruhiger Charakter, ein bodenständiger Typ, dem seine Verwurzelung in Görlitz anzumerken ist. Fragt man in der Stadt, finden sich kaum Vorbehalte gegen seine Person, eher schon gegen die Partei, welche er vertritt. „Görlitz ist meine Heimat, es ist die Stadt, in der meine Eltern gelebt haben, meine Großeltern“, verdeutlicht der 37jährige im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. 

Nach seinem Abitur ging Wippel zunächst zur Bundeswehr, studierte anschließend in Niedersachsen und arbeitete dort als Polizeikommisar. Für ihn sei es jedoch selbstverständlich gewesen, daß er irgendwann hierher zurückkehre, sagt Wippel. Vor sieben Jahren war es dann soweit. Kurze Zeit später trat das ehemalige FDP-Mitglied bereits in die AfD ein und wurde zum Kreisrat in Görlitz gewählt. Nun soll der große Wurf folgen.

Grüne, SPD und „Bürger für Görlitz“ bilden Bündnis

Die drei weiteren Kandidaten, die in Görlitz Oberbürgermeister werden wollen, zeigen sich auf dem Stadtfest des DGB weniger gesprächsbereit. Eines jedoch eint sie: Ein AfD-Sieg soll am 26. Mai unter allen Umständen verhindert werden. Die Grünen-Bewerberin Franziska Schubert hat dafür ein breites Bündnis hinter sich geschart. So unterstützen auch die SPD und die mit rund 20 Prozent im Stadtrat sitzenden „Bürger für Görlitz“ die 36jährige und verzichten auf eigene Kandidaten. Das an der polnischen Grenze gelegene Görlitz gelte der „europafeindlichen AfD ohnehin nur als Trophäe“, glaubt Schubert. Fernab jeder Polemik steht fest: Die überregionale Bedeutung, gerade mit Blick auf die sächsische Landtagswahl im September, ist kaum zu bestreiten.

Die zweite  Frau, die sich um den Chefposten im Rathaus bewirbt, ist Jana Lübeck (Linke). Im Gegensatz zu Schubert stammt die 35jährige aus Görlitz. Ihr werden jedoch nur Außenseiterchancen zugeschrieben. Anders verhält es sich beim Dritten im Bunde, dem CDU-Politiker Octavian Ursu, 1967 in Rumänien geboren, ab 1990 zunächst Trompeter im Görlitzer Theater und seit fünf Jahren im Sächsischen Landtag. Noch vor einigen Jahren wäre er der unangefochtene Favorit gewesen. Bei der Stadtratswahl 2014 brachte es die CDU in Görlitz auf immerhin 33 Prozent. Doch die Parameter haben sich längst verschoben. Zu viele Wähler machte die AfD der CDU im Osten des Freistaats Sachsen abspenstig. Die Wut auf die etablierten Parteien ist überall spürbar.

Vom einstigen Industriestandort Görlitz ist abgesehen vom Schienenbauer Bombardier und dem jüngst geretteten Siemens-Werk kaum etwas übrig. Im Stadtzentrum schimmern die vom Krieg verschont gebliebenen Bauten aus der Spätgotik oder dem Barock, die es nur mühsam schaffen, die bedrückende Atmosphäre, die durch den überall sichtbaren Leerstand herrscht, zu verdrängen. Rund ein Viertel der Bevölkerung ging Görlitz nach der Wende verloren. Momentan leben hier 57.000 Menschen. 7.000 Wohnungen stehen leer. Auch heute sind trotz Feiertag nur wenige Familien auf den Straßen unterwegs, Spaziergänger im Rentneralter bestimmen das Bild. Wie soll es also weitergehen? Wie der Umschwung gelingen? 

Am Wahlstand der AfD wird Wippel von einem älteren Ehepaar in die Mangel genommen. „All die anderen Parteien haben hier nichts bewegt“, geben die beiden resigniert zu Protokoll. „Warum sollen wir nun Ihnen unsere Stimme geben?“ Wippel verspricht: Er will den Mittelstand stärken, die Gewerbesteuer senken. Der Berzdorfer See, ein geflutetes Tagebauloch, soll zum „Görlitzer Meer“ umfirmiert werden, um den Tourismus zu stärken. Die Universität müsse ausgebaut werden, denn: „Wir brauchen Wissen.“ Ihm schwebt eine Europa-Universität wie in Frankfurt(Oder) vor. Vor allem technische Studiengänge sollen gefördert werden. Der Rest ergebe sich dann von selbst. „Wenn du hier mehr junge Leute hast, dann würde auch automatisch ein studentisches Leben entstehen.“ Die Universität, wie auch andere Projekte, sollen länderübergreifend vorangetrieben werden. Ein erstes Treffen mit dem polnischen Bürgermeister des östlichen Görlitz fand bereits statt. „Wir müssen über Grenzen hinaus denken“, erklärt der 37jährige. Ein Satz, der überrascht, schließlich fordert der Vater dreier Kinder gleichzeitig sichere Grenzen nach Polen, um die Kriminalität einzudämmen.

Das muß doch kein Widerspruch sein, entgegnet Wippel leicht verwundert. Auch wenn der politische Gegner das immer wieder behaupte. Von links werde eben Angst geschürt, beklagt er. Gemeint sind damit auch wiederkehrende Unkenrufe, Görlitz würde mit einem AfD-Bürgermeister keine Fördermittel mehr bekommen. Die Region werde abgehängt. „Warum aber sollen wir die nicht bekommen?“ fragt Wippel. Seine Stimme wird dabei lauter, kräftiger. Derlei Drohungen verärgern ihn sichtlich. „Wenn die Bürger ernsthaft für eine freie Wahl bestraft werden, in was für einer Demokratie leben wir denn dann? Dann ist das eine Bananenrepublik.“

„Es gibt eben solche und solche in der Partei“

Das Ziel für Wippel ist jedenfalls klar abgesteckt: Er will schon im ersten Wahlgang gewinnen. Was schwer genug werden dürfte. Sieger bei der OB-Wahl ist derjenige, der die absolute Mehrheit erhält, also mindestens 50 Prozent plus eine Stimme. Sollte das keiner der Bewerber erreichen, wird ein zweiter Wahlgang am 16. Juni notwendig. Bei dem können sich wieder alle zur Wahl stellen. Es genügt die einfache Mehrheit für den Sieg. 

Grünen-Kandidatin Schubert hat bereits angekündigt, beim zweiten Wahlgang auf alle Fälle anzutreten. CDU-Mann Ursu hingegen könnte auf den zweiten Wahlgang verzichten, sollte er hinter Schubert landen – eine Absprache, um die Wahl Wippels zu verhindern. „Wenn die Grünen-Kandidatin Zweiter wird, dann wird es spannend“, belustigt sich Wippel. Eine Absprache hält er durchaus für möglich. „Die werden versuchen, die Preise hochzuhandeln. Das ist dann Postengeschacher.“

Eine weitere Angelegenheit verärgert ihn: Ursu und Schubert treten zwar zur Wahl des Bürgermeisters an, finden sich aber nicht auf der Kandidatenliste für den Stadtrat wieder. Insbesondere Schubert, die nicht aus Görlitz kommt, wirft Wippel deshalb eine mangelnde Identifikation mit der Region vor. „Wenn sie nicht gewinnt, spielt sie hier keine Rolle mehr. Das ist dann halt die Frage: Wie ernst nehme ich überhaupt die Themen, die ich anspreche?“ Die Antwort gibt er selbst: „Eigentlich heißt das: ‘Wenn ich’s nicht werde, ist mir die Stadt egal.’“ 

Das kann man Wippel zumindest nicht vorwerfen. Auf dem Stadtfest trauen sich nach kurzer Zeit mehr und mehr Bürger ihn anzusprechen und auszufragen. Seine unideologische Herangehensweise kommt an. Das muß selbst der politische Gegner zähneknirschend eingestehen. „Es gibt eben solche und solche in der Partei“, raunt jemand am Stand der Grünen, als Wippel schon längst wieder verschwunden ist. Beim Nachdenken über das Gesagte erschrickt er. Sympathische AfD-Politiker? Darf es das denn überhaupt geben?