© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/19 / 10. Mai 2019

Welterfahren trifft auf weltoffen
Debattenkultur: Jakob Augstein und Karlheinz Weißmann diskutieren auf Schloß Ettersburg
Fabian Schmidt-Ahmad

Goethe und Herder hatte die Herzogin Anna Amalia auf ihrem Schloß Ettersburg bei Weimar empfangen. Einen Steinwurf entfernt wurde das Konzentrationslager Buchenwald errichtet. Wohl und Wehe der Deutschen so dicht vereint – eine dramatische Kulisse für ein Gipfelgespräch der besonderen Art. Denn übereinander reden ist zwar bei Rechten wie Linken gegenwärtig schwer in Mode, doch miteinander eher unbekannt, zumindest in der Öffentlichkeit. Aber eben jenes geschah am vergangenen Sonntag in Thüringen.

Auf der einen Seite saß Jakob Augstein (51), Herausgeber der Wochenzeitung Freitag und Miteigentümer des Spiegel-Verlags, auf der anderen der Historiker Karlheinz Weißmann (60). Beide ließen die demokratische Tradition des agonalen Gesprächs wieder aufleben, bei der es nicht um Konsensfindung, sondern um Positionsbestimmung geht. Als der Gastgeber der ausverkauften Veranstaltung, Schloßdirektor Peter Krause, das Gespräch mit der Frage eröffnete, ob Rechts und Links überhaupt noch sinnvolle Begriffe seien, herrschte dennoch zunächst Einmütigkeit.

Denn sowohl Augstein wie Weißmann sahen bei allen Umwälzungen trotzdem Konstanten bei Rechts und Links, die sie gegeneinander zu konturieren suchten. Den Hintergrund dafür bildeten der Aufstieg rechter Parteien in Europa und die Wahlerfolge der AfD. „Wir befinden uns inmitten einer rechten Revolution“, stellte Augstein dazu fest. Diese sei durch ein Versagen der Linken möglich geworden, die die eigentlichen sozialen Interessen vergessen hätte. „Wir haben nicht die Machtfrage gestellt, sondern uns ständig um Minderheitenprobleme gekümmert.“

Es sei bedauerlich, so Augstein, daß Linke diese Entwicklung verdrängen und sich nicht mit rechten Positionen auseinandersetzen. Das aber sei notwendig, um den eigenen Standpunkt wiederzufinden. „Leute wie Sie greifen den Artikel 1 des Grundgesetzes an“, warf er Weißmann vor. Doch erst durch diesen Angriff rücke wieder der Wert dieses Artikels über die Würde des Menschen ins Bewußtsein. Als linken Gegenentwurf zeichnete Jakob Augstein ein Land ohne Grenzen, „in dem jeder willkommen ist, der sich an gewisse Regeln hält“.

Weißmann: „Normalisierung der Verhältnisse“ 

Über diese Funktion einer bloßen Rückbesinnung für Linke sprach Augstein der Rechten eine Existenzberechtigung ab: „Sie haben null Antwort auf die heutigen Probleme.“ Weißmanns Position, die Augstein als „deutschnational“ umschrieb, sei angesichts der Globalisierung etwas, das vergehe. Die Nation sei keineswegs eine feste Bezugsgröße zur Identifikation, sondern historisch ein „Durchgangsphänomen“. Identitäten könnten auch aus anderen sozialen Zusammenhängen gewonnen werden.

Weißmann mochte dem revolutionären Pathos Augsteins nicht folgen. Schlußendlich sei die gegenwärtige Entwicklung nur eine „Normalisierung der Verhältnisse“ nach „Jahrzehnten linker Hegemonie“. Linke müßten wieder lernen, mit Widerspruch von rechts umzugehen. Diesen neuen Gegenwind, für den der Hilfsbegriff „Neue Rechte“ stehe und auf den mit heftiger Gegenwehr reagiert werde, nannte Weißmann den „Einbruch des Realitätsprinzips“. Linke Utopien seien bisher ohne jede Ausnahme gescheitert. 

„Die Linke kapiert noch immer nicht, daß ihre Projekte an Rahmenbedingungen geknüpft sind, wie Grenzen von Nationalstaaten“, betonte Weißmann. Rechts sein dagegen heiße, vom Konkreten auszugehen. Und die Nation sei etwas Konkretes, Gewachsenes, erkennbar an der Bereitschaft, für diese Opfer zu bringen. Unkonkret sei dagegen Augsteins Einwanderungs-Utopia. „Wo bleiben da unsere Interessen, die Sie eingangs angesprochen haben?“ Masseneinwanderung könne weder unser Interesse sein, noch das des Staates.

Augstein führte dagegen an, daß der Sozialstaat sinnvollerweise auf dem Prinzip der Subsidiarität aufgebaut sei. Wenn etwas auf einer Ebene nicht funktioniere, müsse die nächsthöhere übernehmen. Die Frage von Weißmann sei eine grobe Vereinfachung, die eine Verneinung vorwegnehme. „Man kann natürlich in dem Maße, in dem man Europa mehr Staatlichkeit zuspricht, mehr Steuerhoheit zuspricht, in dem Maße kann Europa natürlich auch mehr als Sozialstaatsrahmen funktionieren.“

Wer das nicht wolle, müsse dann auch die Konsequenzen von Stagnation und Desintegration akzeptieren. „Wenn Sie die Leute vor die Wahl stellen, mehr Ausländer oder höherer Wohlstandsverlust, dann bin ich auf die Antwort gespannt.“ Weißmann warnte dagegen, Prognosen über vermeintlichen Arbeitskräftemangel als unverrückbare Tatsachen anzusehen. So habe Zbigniew Brzezinski bei einem Treffen in Davos die gegenteilige Prognose abgegeben, „mittelfristig nur zwanzig Prozent der Weltbevölkerung“ zur Wohlstandssicherung zu brauchen.

Augstein: Innere Sicherheit ist „linkes Thema“  

Auch als „Superstaat“ sei die EU letztlich „nicht funktionstüchtig“, so Weißmann weiter. In mehrfacher Hinsicht könnten die USA, wie von Augstein vorgeschlagen, nicht als Vorbild dienen. So sei Europa ein Zusammenhang von Völkern mit eigener Geschichte und Tradition. Wer damit breche und den amerikanischen Schmelztiegel nachbilde, müsse krasse soziale Verwerfungen akzeptieren. Auch sei der Aufstieg der USA von der Dominanz einer weißen, angelsächsischen Schicht bestimmt gewesen, die Minderheiten rigoros marginalisierte.  

Wer heute durch Stadtbezirke in Berlin fahre, müsse feststellen, „eine Integration hat nicht stattgefunden“, so Weißmann. „Und jetzt soll es uns möglich sein, diese vielen Menschen in was zu integrieren?“ Er sei dafür, Europa stark zu machen. „Aber dann müssen Sie den jungen Leuten auch das Selbstbewußtsein einflößen.“ Wenn er diese frage, was Europa eigentlich ausmache, bekomme er keine Antwort. „Niemand hat ihnen das gesagt.“ Europäische Traditionen seien bestenfalls als beliebig neben anderen vermittelt worden.

„Und das ist übrigens das Ergebnis von Jahrzehnten linker Konzeption“, kritisierte Weißmann. Egal, ob es um „Antirassismus“, „Antifaschismus“, „Antikolonialismus“ oder dergleichen ging, stets war die Botschaft: „Ihr seid schuld. Ihr seid schuld, senkt die Köpfe!“ Augstein widersprach vehement. Die Frage nach der Schuld sei „eine rechte Neurose“, die er von links nicht kenne. Stattdessen schaue er nach der Verantwortung in der Welt. Man könne nicht Waffen hier- und dorthin liefern und erwarten, daß deren Probleme zu Hause blieben.

Eine Überraschung stellte Augsteins Haltung zur inneren Sicherheit dar, die für ihn ein „linkes Thema“ sei. Wer wohlhabend sei, so das Argument, könne sich private Sicherheitsmaßnahmen leisten. Andere dagegen seien „auf das Funktionieren staatlicher Strukturen“ zwingend angewiesen. An diesem Punkt überlappten sich beider Positionen. Ansonsten blieb der Gesamteindruck: hier Weltoffenheit mit eher appellativem, dort Welterfahrenheit mit eher pessimistischem Menschenbild.

Wer bereits als Parteigänger im Publikum saß, sah seine Position mit dem Siegespanier die Arena verlassen. Die überwiegende Mehrheit verfolgte jedoch den – hier im ursprünglichen Wortsinn zu verstehenden – Dialog tatsächlich zur Schärfung der eigenen Sicht. Naturgemäß endete das Gespräch offen. Doch zum Schluß stand ein Konsens. „Jeder, mit dem ich bisher sprach, war hocherfreut, daß dieses Gespräch stattfinden konnte“, sagte Moderator Krause nach der Veranstaltung. „Und zwar Vertreter aus beiden Lagern.“

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