© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/19 / 10. Mai 2019

DVD: Die Wahrheit
Lebenswandel vor Gericht
Werner Olles

Kaum ein anderer Regisseur hat den französischen Nachkriegsfilm so stark geprägt wie Henri-Georges Clouzot. In seinen Thrillern der fünfziger Jahre, in denen das „schwarze“ Element noch länger nachwirkte als in den amerikanischen Filmen des Genres, überwiegt eine pessimistische Grundstimmung, die ihresgleichen sucht. Wie „Manon“ (1949) oder „Die Teuflischen“ (1954) sind es oft kalt wirkende Filme, die in Gestaltung und Darstellung dennoch große Kraft ausstrahlen und beispielhaft für den psychologischen Realismus der Nachkriegsjahre in Frankreich sind.

1960 inszenierte der Regisseur „Die Wahrheit“ („La vérité“), ein Justiz- und Liebesdrama, dessen Heldin von Brigitte Bardot mit einer seltenen Intensität dargestellt wird. Dominique (Bardot) kommt mit ihrer Schwester Annie (Marie-José Nat) aus der Provinz nach Paris. Während Annie von einem bürgerlichen Familienleben träumt, ist Dominique Abenteuern und Flirts nicht abgeneigt. Als sie Annies Freund, den Musikstudenten Gilbert (Sami Frey), kennenlernt, verlieben sich die beiden, doch der eifersüchtige Gilbert erträgt es nicht, daß Dominique sich auch mit anderen Männern einläßt.

Als Gilbert endgültig einen Schlußstrich zieht und Annie heiraten will, eskaliert die Situation. Die deprimierte Dominique will Selbstmord begehen, erschießt aber statt dessen im Affekt Gilbert. Im Prozeß versucht ihr Verteidiger Maitre Guérin (Charles Vanel), sie vor der Todesstrafe zu retten, in dem er die Schuld an der Tat Gilbert anlastet, während der Ankläger Maitre Eparvier (Paul Meurisse) Dominiques Lebenswandel und ihre Moralvorstellungen ins Spiel bringt und selbst ihre eigene Schwester gegen sie aussagt … 

Clouzot beleuchtet einen mit akademisch-kühler Sorgfalt gezeichneten Mordprozeß, in dem Richter, Ankläger, Verteidiger und Zeugen gleichermaßen unfähig sind, im Lebensbild einer abgeglittenen jungen Frau die Wahrheit zu erkennen und bei der Aufdeckung der psychologisch-geistigen Ursachen für gesellschaftliche und individuelle Verirrungen versagen. Dennoch verzichtet der Film auf eine eigene ethische Grundhaltung und begnügt sich mit der Anklage eines Justizsystems, das für Gefühle keinerlei Verständnis aufzubringen vermag.

DVD: Die Wahrheit. Filmjuwelen 2019, Laufzeit etwa 122 Minuten