© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/19 / 10. Mai 2019

Die Wahrheit umdeuten
Medienethik: Das Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg diskutiert den Fall Relotius
Gil Barkei

Anfang vergangener Woche hat die dreiköpfige Spiegel-Prüfkommission ihren Abschlußbericht zum „Relotius-Skandal“ (JF 2/19) der Chefredaktion und der Geschäftsführung übergeben. Das Hamburger Nachrichtenmagazin plant die Ergebnisse Ende des Monats in eine große Geschichte einfließen zu lassen.

Auch beim diesjährigen Bonner 1. Mai-Kolloquium zur Medienethik des Instituts für Gesellschaftswissenschaften Walberberg war der Fall neben dem umstrittenen „Framing“ (JF 10/19) das Diskussionsthema. Die Referenten, die Journalistin und Schriftstellerin Sophie Dannenberg, der Cicero-Redakteur Alexander Kissler und der Autor sowie Ehrenpräsident des Deutschen Lehrerverbandes Josef Kraus gingen dabei weniger auf die Person Claas Relotius ein. Vielmehr beleuchteten sie unter der Frage „Lügen für die Wahrheit?“ gesellschaftliche Umstände, die sein jahrelanges Agieren mit verfälschten Artikeln bei insgesamt acht Redaktionen begünstigten. 

„Wer über Worte bestimmt, der beherrscht das Denken“

Ein Reporter, so der gastgebende Institutsvorsitzende Wolfgang Ockenfels, sei zwar der Wahrheit verpflichtet, allerdings sei der Begriff zunehmend mit „Ansprüchen und Tabus“ behaftet. Leute, die glauben, der Klimawandel sei von Menschen gemacht und die Immigration nach Deutschland stelle „ein gottgewolltes Schicksal“ dar, seien geneigt, für diese „quasi-religiöse Wahrheit“ auch mit journalistisch fragwürdigen Mitteln zu kämpfen. 

Sophie Dannenberg fragte, ob sich der Journalist überhaupt mit den Kategorien Lüge und Wahrheit fassen lasse, und näherte sich den „Frames“ der Gedankenmuster aus Perspektive der Literatur, in der die Wahrheit in der Erfindung und nicht in den Fakten liege, während es im Journalismus umgekehrt sei. In der Realität kommen sich diese Antipoden oft gefährlich nah, und immer wieder sind Personen beides, Literat und Journalist. Ikonen geworden seien aber nur jene, die den Absprung vom Journalismus geschafft hätten: Walter Benjamin, Billy Wilder, Erich Kästner. Letztere lieferten mit dem Film „Reporter des Satans“ und dem Roman „Fabian“ zudem (Selbst-) Abrechnungen mit dem Journalisten.

Gleichzeitig sei die Figur des Journalisten oft negativ besetzt. Er taucht häufig als Geschiedener, Alkoholiker, Pleitier oder Studienabbrecher auf, ist eitel, in den Beruf irgendwie hineingerutscht und letztlich identitätslos. „Gesellschaftlich undefiniert“, kommt er „aus dem Nichts und geht ins Nichts zurück“. Für Dannenberg verkörpert der Journalist die „Verwandlung des Bürgers zum bewußtlosen Verkäufer“, ein „Fester Freier“, der nicht der Wahrheit, sondern als unbeteiligter Beobachter dem Ereignis verpflichtet ist. Dieses erwartete Zurückstellen des eigenen Ichs und persönlichen Deutungsrahmens berge aber die Gefahr, keinen Zugriff mehr zu haben auf die eigenen moralischen Kategorien. Das Abrutschen in die Amoralität sei daher „strukturell in der Figur des Journalisten angelegt“. Auch Relotius bleibe gewissermaßen gesichtslos, verschwunden. Niemand wisse genau, wer und wo er eigentlich ist. 

Alexander Kissler betonte in Anlehnung an sein kürzlich erschienenes Buch „Widerworte“ (JF 13/19) die besondere Bedeutung von manipulierenden Phrasen und unterstrich, daß es je nach Auswahl und Zusammenschnitt von Bildern und Beschreibungen stets die Möglichkeit einer Inszenierung gäbe. Diese orientiere sich an dem Applaus des zahlenden Publikums. 

Ein aktuelles Beispiel für „Framing“ sei die Verwendung des Wortes „Easter Worshippers“, also „Ostern Feiernde“, um das Wort „Christen“ bei der Benennung der Opfer der islamistischen Terroranschläge in Sri Lanka zu vermeiden. Ein anderer geschaffener Begriff sei der„Klimaleugner“, um Kritiker des Narrativs vom menschengemachten Klimawandel zu diskreditieren. „Wer über Worte bestimmt, der beherrscht das Denken. Und wer ein neues Denken etablieren will, der muß den Worten einen neuen Sinn geben“, faßte Kissler die Bedeutung dieses „Wordings“ zusammen. Betroffen seien Begriffe wie Heimat, Solidarität, Menschlichkeit oder Angst, die „zu strategischen Zwecken in andere Kontexte gestellt“ und damit ihren ursprünglichen Sinn verlieren würden. 

Allgegenwärtige Phrasen wie „Vielfalt ist unsere Stärke“ zielten auf sofortige Zustimmung und nicht auf offenen differenzierten Dialog, obwohl sie das Gegenteil vorgeben. Andersdenkende werden ausgegrenzt. Kisslers humorvoller Vortrag machte deutlich, daß nicht nur Medien und Politik betroffen sind, sondern die Gesellschaft als Ganzes samt der Wirtschaft, wie der neue Werbeslogan deutscher familiengeführter Unternehmen „Made by Vielfalt“ verdeutlicht. 

Das bürgerliche Lager muß mehr tun

Josef Kraus umriß vor den etwa 190 Zuhörern vier Beobachtungen zum Zustand der deutschen Medienlandschaft. Erste Diagnose: „Wir leben in einer medial vermittelten Scheinwelt.“ Die bürgerlich-liberalkonservativen Akteure hätten zu wenig dagegengesetzt, daß die linksgrün dominierten Medien sich vereint mit der Politik in einer Echokammer um sich selbst drehen. Die Konsequenz sei, zweitens, eine einseitige distanzlose Berichterstattung und Unterhaltungsindustrie seitens privater wie öffentlich-rechtlicher Sender, die wie eine Nanny-Presse agierten. Begriffe wie Nationalmannschaft, Volk, Vaterland oder Heimatliebe wolle man erst gar nicht auf den Bildschirm bringen. 

Die ideologische Basis bildeten laut Kraus die 68er und ihre Enkel der Politischen Korrektheit und des Gender-Gedankens sowie die „Reeducation“ John Deweys. Die Kategorien wahr/unwahr würden dem folgend durch die Kategorien gut/böse ersetzt. Das „kulturmarxistische“ Ziel: „die Eliminierung nicht-linker Vorstellungen“. 

Nicht „die Realität zählt, sondern die halluzinatorische Wunscherfüllung“ für die, drittens, die Konsumenten in die richtige Richtung „geschubst“ („Nudge“) werden sollen. Die jüngsten Entwicklungen um Greta Thunberg lassen Kraus, viertens, eine fortschreitende „infantile Sakralisierung von Politik und Medien“ erkennen.

Trost böten Blätter wie Cicero, Cato, Tichys Einblick, Tumult, die NZZ und Die Neue Ordnung, die aus der „jüngsten Inquisition“ gestärkt hervorgegangen sei. 

Letzteres liefert in der Tat einen aktuellen Beweis, daß längst nicht mehr jede Mundtot-Kampagne gegen ausscherende Stimmen von Erfolg gekrönt ist. So konnte die Zweimonatsschrift, die Wolfgang Ockenfels als Chefredakteur verantwortet, trotz der scharfen Angriffe des Arbeitskreises Christliche Sozialethik (JF 15/19) nach eigenen Aussagen noch Abonnenten und Unterstützer gewinnen.

Die nachfolgende Diskussionsrunde mit dem Publikum war geprägt von der Frage nach Gegenstrategien und streifte die in den Vorträgen zu kurz gekommene Rolle der sozialen Medien als Faktenprüfmöglichkeit und Angebotserweiterung. Während sich Dannenberg für eine stärkere Debattenkultur bereits in den Schulen und im privatem Umfeld aussprach, erinnerte Kissler an die ökonomische Macht der Kunden per Kaufentscheidung. Allerdings dürfe man trotz rückläufiger Auflagen auch nicht vergessen, daß linke Sichtweisen und Produkte immer noch viele überzeugte Anhänger hätten, die gegenläufig von einem „Rechtsruck in den Medien“ sprechen. Berufszugangsregeln für Journalisten, wie sie Josef Kraus vorschlug, lehnte Kissler als potentiell mißbräuchliche Aussortiermöglichkeit ab.

Kraus ging zudem erneut hart mit dem „ehemals bürgerlich-liberalkonservativen“ Lager ins Gericht, das sich besser vernetzen, eigene Akzente setzen und Widerstand leisten müsse, anstatt in den Rundfunkräten still zu bleiben. Starke Reaktionszirkel könnten zu Tausenden auf einseitige Sendungen reagieren und bei den zuständigen Gremien protestieren.

Ein Gast fragte dies aufgreifend rhetorisch alle Anwesenden, wer sich im vergangen Jahr mit einem Anruf oder Brief an die Presseorgane gewandt habe. Rechte und Konservative täten zu wenig gegen Sprachumdeutungen, zum Bespiel wenn sie mit den Nationalsozialisten gleichgesetzt würden. Seinen Abgeordneten anschreiben könne jeder. Der selbstkritische Aufruf: „Das bürgerliche Gesäß hochbekommen!“