© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/19 / 10. Mai 2019

Herrscher einer Trutzgemeinschaft
Das Reich festigen: Im Mai 919 wurde Sachsenherzog Heinrich zum deutschen König gewählt
Karlheinz Weißmann

Wer nach dem Beginn der deutschen Geschichte fragt, wird recht verschiedene Antworten erhalten. Ein paar Traditionalisten dürften auf Arminius und dem Sieg im Teutoburger Wald beharren, ein paar Anbeter des Zeitgeistes werden alles streichen, was vor der Entstehung der Bundesrepublik lag. Unter Gebildeten ist die Auffassung verbreitet, daß die deutsche Geschichte erst mit der Reichsgründung von 1871 begann, während das Datum 919 kaum jemand nennen wird. 

Sicherung der Grenzen im Osten und Norden

Das hängt auch mit einer Entwicklung zusammen, durch die das Mittelalter seine Bedeutung für die nationale Identität verloren hat und die nicht auf Deutschland beschränkt ist. Es wirkt sich hier aber besonders folgenreich aus, was zum Beispiel die Gereiztheit erklärt, wenn jemand bestreitet, daß Völker und Nationen Konstruktionen oder gleich Erfindungen sind, oder Bezug auf unsere „tausendjährige Geschichte“ nimmt. Dabei ist unbestreitbar, daß die Deutschen, wenn nicht dem Namen, dann der Sache nach seit dem Zerfall des karolingischen Reiches als eine faßbare Einheit existierten, sich dessen schrittweise bewußt wurden und so die Grundlage für die Entstehung einer eigenen Ordnung schufen.

Dabei ging es aber nicht um einen organischen Prozeß in dem Sinn, daß er selbstverständlich abgelaufen wäre. Wie jede politische Einheit, die sich in der Geschichte halten konnte, war auch Deutschland das Ergebnis der Umstände und der Tatkraft einzelner. Im Hinblick auf die Umstände war die Bedrohung von außen ein entscheidender Faktor. Die Herzöge, die Führer der einzelnen ostfränkischen Stämme, sahen sich schon aus Eigeninteresse gezwungen, ein gewisses Maß an gemeinsamer Abwehr zu organisieren, gegen die heidnischen Slawen im Osten, gegen die dauernden Angriffe des Reitervolks der Ungarn wie gegen die Nordleute, die die Küsten verheerten und auf den Flüssen bis ins Landesinnere vordrangen. Dieser Faktor wog für die weitere Entwicklung schwerer als die sprachliche Gemeinsamkeit oder der Bestand an gemeinsamer Überlieferung, den es ohne Zweifel gab.

Als der fränkische Herzog Konrad 911 von seinesgleichen zum König gewählt wurde, gelang es ihm allerdings nicht, wirkliche Kontrolle über die anderen Herzöge zu gewinnen. Alle Versuche, etwas von der alten Macht der Karolinger wiederherzustellen, scheiterten. Zu den Widerspenstigen gehörte auch Heinrich von Sachsen. Folgt man der Schilderung Widukind von Corveys, war Heinrich ein großer und eindrucksvoller Mann, besaß erhebliche Körperkraft, maß gerne seine Kräfte im Wettstreit, liebte die Jagd wie gutes Essen und Trinken. 

Etwa 876 geboren, hatte er 912 die Regierung Sachsens übernommen, sah sich allerdings sofort durch Eingriffe Konrads in seinen Rechten beschränkt. Die Folge war ein langdauernder Konflikt, der 915 nach dem Sieg Heinrichs über ein Heer Konrads zu einer Kompromißlösung führte. Daß Konrad zurückwich, hatte auch damit zu tun, daß er in der letzten Phase seiner Herrschaft  vor allem mit dem Aufbegehren der Herzöge von Schwaben und Bayern konfrontiert war, die seine Oberhoheit nicht anerkennen wollten. Im Kampf zog sich der König eine schwere Verletzung zu, an der er am 23. Dezember 918 starb.

Obwohl die Quellenlage dürftig ist, darf man annehmen, daß Konrad Heinrich zu seinem Nachfolger bestimmt hat. Vielleicht geschah das aus der Einsicht, daß nur der Sachse genug Rücksichtslosigkeit und Stärke an den Tag legte, um das labile neue Reich zu festigen. Trotzdem war die Erhebung Heinrichs alles andere als eine Selbstverständlichkeit, was auch erklärt, warum sie erst im Mai 919 stattfinden konnte. 

Heinrich verzichtete auf die Salbung, die ihm angeboten wurde, wohl weniger aus Bescheidenheit als vielmehr mit der Absicht, den Herzögen zu signalisieren, daß er keine weitergehenden Ansprüche gegen sie geltend machen werde. So beschränkte sich Heinrich anfangs darauf, im Wege des Ausgleichs das Einverständnis mit den übrigen Herzögen zu suchen. Von den früheren karolingischen Strukturen war sowieso nichts zu retten. Eine Anknüpfung gab es nur im Hinblick auf die Kirche, die in die Verwaltung einbezogen wurde. Durch Geschick und Zähigkeit gelang es Heinrich immerhin, die königliche Stellung gegenüber Schwaben und Bayern zu stärken. Schwerer wog noch die Rückgewinnung Lothringens, das in der Zeit Konrads an Westfranken verlorengegangen war.

Heinrich legte fest, daß das Reich ungeteilt blieb

Im Grunde hatte man es dabei schon mit einem jener außenpolitischen Erfolge zu tun, die den eigentlichen Ruhm Heinrichs begründeten. In dauernden Kämpfen drängte er die Slawen und die mit ihnen verbündeten Dänen zurück und errichtete Marken als Grenzgebiete zum Schutz des sächsischen Kernlandes. Widukind behauptet, daß dieses Vorgehen nur ein Übungslauf für die eigentliche Auseinandersetzung war: den Kampf gegen die Ungarn. Von ihnen, die im Ruf der Unbesiegbarkeit standen, hatte sich Heinrich mit hohen Tributzahlungen freigekauft. Er nutzte die so gewonnene Zeit aber zur Errichtung von Befestigungsanlagen und dem Aufbau einer Truppe aus Panzerreitern, die dann 933 in der Schlacht bei Riade den Ungarn eine vernichtende Niederlage beibrachte.

Im 19. Jahrhundert hat man Heinrichs Ausrichtung auf den Osten positiv abgehoben gegenüber der auf den Süden fixierten Politik seiner Nachfolger. Aber man übersah die Maßnahmen, mit denen der König einen Anspruch auf Burgund zu festigen suchte, und ignorierte die Nachricht, daß er noch 934 einen Zug nach Italien plante, vielleicht, um dem ostfränkischen Anspruch auf das Langobardenreich Geltung zu verschaffen. Dazu ist es, wohl aus Krankheitsgründen, nicht mehr gekommen.

Heinrich, zu dem Zeitpunkt schon ein Mann von beinahe sechzig Jahren, hatte seine Nachfolge bereits geregelt. Nicht sein ältester Sohn Thankmar, sondern sein Zweitgeborener Otto war als König designiert. Und Heinrich hatte festgelegt, daß das Reich bei seinem Tod ungeteilt bleiben sollte, anders als es bei den fränkischen Herrschern üblich gewesen war. Als er 936 starb, ging das Königtum deshalb im Ganzen an Otto über. Auch das war keine Selbstverständlichkeit. Aber die sächsischen Herrscher sollten doch im Lauf von einhundert Jahren, die ihre Dynastie sich halten konnte, ihre Stellung festigen und einen Prozeß vorantreiben, durch den Deutschland zu einer historischen Größe wurde.

Leopold von Ranke hat davon gesprochen, daß die Reichsgründung als Ergebnis „der inneren Entwicklung der deutschen Stämme“ zustande kam. Und er fügte hinzu, daß dieser Akt jenem anderen als notwendige Voraussetzung diente, der zwar nicht von Heinrich, aber von dessen Sohn Otto mit der Übernahme der Kaiserwürde vollzogen wurde, und das sei als „das Weltereignis des 10. Jahrhunderts“ zu betrachten, dessen Voraussetzung der erste König der Deutschen geschaffen hatte.