© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/19 / 17. Mai 2019

„Da darf ich nicht drüber reden“
Bildung: An einer niedersächsischen Schule unterrichten Externe ohne Anwesenheit einer Lehrkraft Sexualkunde – bis ein Vater widerspricht
Hinrich Rohbohm

Es war für ihn wie ein Déjà-vu, als seine Frau im Herbst vergangenen Jahres vom Elternabend der Grundschule erzählt, die seine 10 Jahre alte Tochter besucht. Vitali Pritzkau sitzt in der Lobby eines Wolfsburger Hotels und kramt in seiner Tasche. Er holt ein Konvolut an Schreiben hervor, breitet sie auf dem Tisch aus. Korrespondenzen mit Lehrkräften, Schriftwechsel mit der Landesschulbehörde und dem niedersächsischen Kultusministerium. 

„Wir waren von der Schule darüber informiert worden, daß die Lerneinheit Sexualkunde bald ansteht und daß ein Teil davon durch externe Experten durchgeführt werden solle“, gibt der 39jährige im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT wieder, was ihm seine Frau damals mitteilte. Pritzkau ist selbst Lehrer von Beruf. „Die Schule macht gute Arbeit, es ist nicht meine Absicht, sie zu schädigen“, schickt er gleich vorweg. Doch dieses Schreiben machte ihn hellhörig. „Ich war bei dem Thema bereits sensibilisiert. Fünf Jahre zuvor hatten wir schon einmal unangenehme Erfahrungen mit Externen bei diesem Thema erleben müssen.“

„Ich dachte, ich fall’ vom Stuhl“

Seine Tochter besuchte damals noch den Kindergarten. Auf einem Elternabend ist die Beratungsstelle Pro Familia geladen. Es ist ein Infoabend über Sexualität im Kindesalter. „Zwei Damen, so zwischen 40 und 50 Jahre alt, hielten einen Vortrag“, erinnert sich Pritzkau. Die Aussagen der Damen hatten ihn damals zutiefst schockiert. „Da wurde erzählt, ‘wenn das Kind am Fenster steht und masturbiert, lassen Sie es mal machen.’“ Sexualität sei alles, schon eine Umarmung, eine Berührung. Doktorspiele und nackig im Kindergarten herumlaufen, alles in Ordnung. „Es war aus meiner Sicht ein manipulativ aufgebautes Referat über ein intimes Thema, das bei vielen Eltern ein unangenehmes Gefühl hinterließ.“ Pritzkau widersprach den Pro-Familia-Vertreterinnen. Als einziger. „Ich sagte denen, mein Kind läuft hier nicht nackig rum.“ Später seien andere Eltern zu ihm gekommen, hätten sich für seinen Widerspruch bedankt. 

Vier Jahre später wird Vitali Pritzkau daher mißtrauisch, als er erfährt, daß Expertinnen einer Beratungsstelle des katholischen Vereins Donum Vitae Teile des Sexualkunde-Unterrichts erteilen sollen. Und das ohne die Anwesenheit einer Lehrkraft. 

Er wendet sich an die zuständige Fachlehrerin. Die verweist ihn auf einen Elternabend, der zuvor erfolgen und auf dem Näheres erörtert werden solle. Doch der Elternabend bleibt aus. Dafür erhält Pritzkau wenige Monate später ein Schreiben der Schule, die ihm darin mitteilt, daß der Sexualkunde-Unterricht „bei ihrem Kind nun kurz bevor“ stehe. „Ich dachte, ich fall vom Stuhl“, erinnert sich der Vater.

„Die Berater werden drei Stunden in den Klassen verbringen, wobei die Lehrkräfte nur am Anfang und Ende dabei sein werden“, heißt es in dem Schreiben der Grundschule weiter, daß der jungen freiheit vorliegt. Auch steht dort: „Mit diesem Schreiben weisen wir sie darauf hin, daß das Thema Sexualkunde im Kerncurriculum Sachunterricht für Niedersachsen fest verankert ist und die Teilnahme ihres Kindes daran verpflichtend ist.“ Ein Schreiben, ohne Datum und mit „Team der Grundschule“ unterzeichnet. Auch, wann die Sexualkunde-Einheit stattfinden soll, bleibt unerwähnt. 

Plötzlich ist von Pflicht    keine Rede mehr

„Wahrscheinlich hat man diesen Brief einfach aus früheren Jahren übernommen“, vermutet Pritzkau. Auf Nachfrage bei der Schulleitung erfährt er nur nebulös, daß die Donum-Vitae-Beratung auf eine „Initiative von Eltern“ zurückgehe. Er spricht mit einem befreundeten Vater über die Sache, dessen Sohn den Donum-Vitae-Unterricht bereits mitgemacht hatte. Was da denn so gelaufen sei, hatte der Vater von seinem Sohn wissen wollen. „Da darf ich nicht drüber reden, das wurde da so vereinbart“, habe der geantwortet.

Pritzkaus Zweifel wachsen. Dürfen Externe überhaupt den Unterricht, noch dazu bei einem solch sensiblen Thema, einfach übernehmen? „Stellen Sie sich vor, eine Schulklasse besucht eine Moschee und der Imam sagt zum Lehrer: ‘Jetzt gehen Sie mal raus, ich möchte mich jetzt mit den Kindern allein unterhalten’“, benennt der Mathematik-Lehrer Pritzkau ein Beispiel dafür, wie delikat die Angelegenheit ist. Er könne sich nicht vorstellen, daß so etwas zulässig wäre. 

Pritzkau schreibt die Schule an. „Wer trägt die Verantwortung für das, was und wie Donum Vitae ohne anwesende Lehrkraft lehren wird, und wie will die Schule die Verantwortung dafür wahrnehmen?“, will er wissen. Eine heikle Frage, auf die er von der Schule keine Antwort erhält. Er wendet sich an die Rechtsabteilung des niedersächsischen Kultusministeriums. Doch auch dort möchte man seine Frage nicht beantworten, verweist ihn an die Braunschweiger Landesschulbehörde. „Aber da bekam ich ebenfalls keine Antwort.“ 

Weil ihm die Behörden keine Antwort geben, sucht er sie im Internet. Und stößt auf eine Aussage von Sebastian Schumacher, Pressesprecher des niedersächsischen Kultusministeriums. „Auch wenn Schulen externe Experten einladen, erteilen diese nicht den Unterricht, sondern sind Teil des Unterrichts“, verweist dieser auf das Schulgesetz. Ein weiterer Anruf im Kultusministerum bringt Klarheit. Ja, Herr Schumacher ist nach wie vor Pressesprecher. Ja, die angeführte Rechtsauffassung von Herrn Schumacher gilt nach wie vor“, heißt es nun. 

Plötzlich ist auch von einer verpflichtenden Teilnahme seiner Tochter am Sexualkunde-Unterricht keine Rede mehr. „Weil es eben gar kein regulärer Unterricht ist“, weiß Pritzkau heute. Es handelte sich um eine Dienstpflichtverletzung. Daß darüber offenbar jahrelang niemand stolperte, sei für ihn „schockierend“ gewesen.