© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/19 / 17. Mai 2019

Intoleranz gegenüber Abweichlern
Redefreiheit: Politisch kampagnenfähig ist nur, wer Zugriff auf den öffentlichen Raum hat
Thorsten Hinz

Die Themenliste des öffentlich nicht mehr oder kaum noch Verhandelbaren wird immer länger. Sie umfaßt den Schutz des ungeborenen Lebens, Zweifel am anthropogenen Klimawandel, die Gender-Ideologie, den Islam, die zunehmenden Kulturkonflikte im Land, die Zuwanderung und anderes. Wer sich abweichend von der offiziellen Sprachregelung äußert, stellt sofort fest, daß seine Meinungsfreiheit sehr schmal bemessen ist. Schlimmstenfalls wird ihm gedroht, daß seine Meinung eine „faschistische“ und damit ein Verbrechen sei. In der liberalen Variante wird ihm zwar bestätigt, daß er frei darin sei, seine Meinungen, Überzeugungen, Erkenntnisse zu pflegen, er aber kein natürliches Recht besitze, sie öffentlich auszubreiten.

Andersdenkende, die den Konflikt scheuen, leben Meinungsfreiheit daher innerhalb der Grenzen aus, die in diesen Versen gezogen sind: „Ich denke, was ich will/ Und was mich beglücket,/ Doch alles in der Still/ Und wie es sich schicket.“ Das Refugium der Privatheit kann gar nicht hoch genug geschätzt werden, zumal es von den Gesinnungswächtern massiv in Frage gestellt wird. Doch politische Wirksamkeit entfaltet die Widerrede erst, wenn sie die Öffentlichkeit erreicht und in den politischen Diskurs eingeht.

In diesem Sinne bezeichnet „Meinungsfreiheit“ das Recht auf Präsenz im öffentlichen Raum. Nehmen Andersdenkende es heute in Anspruch, werden ihnen demokratiefeindliche „Wort-

ergreifungsstrategien“, auf Gewaltandrohung angelegte „Aufmärsche“ und menschenfeindliche „Hetze“ unterstellt. Das Selbstverständliche wird zum Skandalon erklärt. Immerhin bietet das Internet eine alternative Möglichkeit für Informationsaustausch, Analyse und Diskussionen. Hinsichtlich des Reflexionsniveaus, der analytischen Schärfe und des Sprachwitzes überbieten Plattformen und Blogs die durchschnittlichen Standards der Tagespresse, der politischen Magazine und Talkshows.

Doch vorerst handelt es sich nur um einen erweiterten Samisdat. Darunter verstand man im kommunistischen Ostblock die Verbreitung systemkritischer Literatur über nichtoffizielle Kanäle. Die großen Weichen werden immer noch andernorts gestellt. Politisch kampagnenfähig ist nur, wer Zugriff auf die großen Pressehäuser, die Rundfunk- und Fernsehkanäle hat, wer Hörsäle, Versammlungsräume und Bühnen besetzt. So ist es Politik und Medien gelungen, die Mär der ausländerfeindlichen Hetzjagd von Chemnitz in die Welt zu setzen und den Ausgangspunkt der Bürgerproteste – den Mord an einem Deutschen durch einen Asylbewerber – so gut wie vergessen zu machen.

Es ist ein Irrtum zu meinen, daß solche Manipulationen nur die ausnahmsweisen Schwächeanfälle eines sonst intakten Systems sind. Nein, hier wird ein ganzes Arbeits- und Funktionsprinzip anschaulich. In einem im Sommer 2018 in der New York Times erschienenen Aufsatz hat der amerikanische Philosophie-Dozent Bryan W. Van Norden eine exemplarische Innenansicht und Selbsterklärung der Medienpraxis geliefert und aus linksliberaler Sicht gerechtfertigt. Eine deutsche Übersetzung wurde im Kulturmagazin des Goethe-Instituts, das goethe, unter der Überschrift „Kein Recht auf Publikum“ veröffentlicht.

Bezeichnenderweise beginnt Norden mit einem Zitat aus Herbert Marcuses Essay über „Repressive Toleranz“, in dem bedauert wird, daß in den Debatten der Massenmedien die Dummheit genauso viel Raum erhält wie die Intelligenz – ein Befund, dem man unabhängig vom politischen Standpunkt zustimmen kann. Da der Zugang zur weiten Öffentlichkeit – durch Fernsehsender, Zeitungen, Zeitschriften, Vorträge usw. – eine knapp bemessene Ressource sei, brauche es, so Norden, „treuhänderische Wächter der rationalen Debatte“, die für einen „gerechten Zugang“ sorgen.

Die „Verweigerung institutioneller Verbreitungswege“ sei keine „Zensur“, sondern ein vernünftiges Korrektiv. Norden widerspricht dem englischen Philosophen John Stuart Mill (1806–1873), der die absolute Meinungs- und Publikationsfreiheit verlangt hatte, weil auch eine falsche Meinung eine produktive Auseinandersetzung auslösen könne, in der die wahrheitsgemäße Sichtweise sich neu legitimiere.

Zu Mills Lebzeiten sei das richtig gewesen, weil falsche Ansichten etwa zur Sklaverei und zur Rolle der Frau weit verbreitet gewesen seien und eine Erörterung solcher Fragen mehrheitlich abgelehnt wurde. Unter Berufung auf die freie Meinungsäußerung konnte die „Tyrannei der Mehrheit“ umgangen und die Debatte dennoch geführt werden. Unter heutigen Umständen sei die Auffassung dagegen „naiv“. Denn während die schrankenlose Redefreiheit im 19. Jahrhundert dazu diente, die „Tyrannei der Mehrheit“ zu überwinden, würde sie sie heute begünstigen und den rationalen Diskurs zerstören.

Wie aber unterscheidet man „offensichtliche Unwahrheiten“ vom rationalen Argument, „die renitenten Ignoranten und intellektuellen Hochstapler“ von denen, „deren Kompetenz außer Frage steht“ und die deshalb auf „gerechten Zugang“ pochen dürfen? Die Antwort Nordens ist keine philosophische, sondern eine rein politische. Die falschen sind die „rechtsextremen Ansichten“ (worunter auch die genannten Themen fallen).

Der Experte für fernöstliche Philosophie ist verräterisch nahe beim Marxisten Marcuse, der dafür plädiert hatte, „den Konservativen und der politischen Rechten“ die Toleranz zu entziehen, „noch ehe sie aktiv werden können“. Das bedeute „Intoleranz auch gegenüber dem Denken, der Meinung und dem Wort“. Gewiß seien das „antidemokratische Vorstellungen“, die sich jedoch notwendigerweise aus dem tatsächlichen Zustand einer Gesellschaft ergeben, in der „die Basis für allseitige Toleranz zerstört“ sei. Dafür sorge unter anderem die „Herrschaft der monopolistischen Medien“ als „Instrumente ökonomischer und politischer Macht“, die ein falsches Bewußtsein erzeugten. „Die Bedingungen, unter denen Toleranz wieder eine befreiende und humanisierende Kraft werden kann, sind erst herzustellen.“

Um seine Toleranz-Vorstellungen unanfechtbar zu machen, lädt Marcuse sie eschatologisch auf: „Das Telos der Toleranz ist Wahrheit.“ Norden zitiert den Satz zwar nicht, doch bildet der Anspruch, die Wahrheit gegen die Lüge zu verteidigen, den Ausgangspunkt seiner Ausführungen. Seine Wahrheitskriterien, die das Recht auf ein Massenpublikum begründen, sind denkbar schlicht. Er plädiert dafür, daß Öffentlichkeit „auf Grundlage von Leistung und gesellschaftlichem Nutzen gewährt wird“. Das erste Kriterium ist ein qualitatives, das zweite ein pragmatisches. Nur gibt es  auch nützliche Täuschungen und Unwahrheiten und kann des einen Nutzen des anderen Schaden sein. Und ein Experten- oder Elitenkonsens kann auf einem gemeinsamen, fundamentalen Irrtum beruhen.

In der DDR wurde jeder Schüler im Staatsbürgerkunde-Unterricht mit dem Lenin-Zitat konfrontiert: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“ Von diesem Standpunkt aus verbreitete jeder, der der Marxschen Lehre widersprach, die Unwahrheit. Es war also vollkommen richtig, daß ihm der  Mund verboten und er zur Machtlosigkeit verurteilt war. Nicht um die Wahrheit ging es, es ging um den Machterhalt der marxistisch-leninistischen Staatspartei!

Um Machterhalt geht es auch heute. So behauptet Norden, amerikanische Universitäten hätten der „fairen und ausgewogenen Diskussionskultur einen Schaden“ zugefügt, als sie den  Politikwissenschaftler Charles Murray einluden, seine „pseudowissenschaftlichen Thesen“ zu diskutieren. Murray hatte 1994 gemeinsam mit dem Psychologieprofessor Richard Herrnstein das Buch „The Bell Curve“ verfaßt, in dem sie Unterschiede in der durchschnittlichen Intelligenz der Rassen konstatieren und diese auch auf genetische Veranlagungen zurückführen. Was daran wissenschaftlich oder bloß „pseudowissenschaftlich“ ist, wäre zu diskutieren, doch Murrays Gegner wollen dekretieren statt in einen fairen Meinungsstreit einzutreten. Im März 2017 war der Wissenschaftler im Middlebury College in Vermont eingeladen. Auf Youtube kann man die tatsächlichen Tyrannen in Aktion sehen: ein wutschnaubender Studenten-Mob, der den Referenten niederbrüllt. Murray und eine ihn begleitende Professorin wurden sogar tätlich angegriffen, was Norden bedauert – und zwar, weil das dem „Gegner“ Gelegenheit gibt, „die Rolle des Märtyrers“ zu ergreifen.

Die Medienkonzentration hat seit den Lebzeiten Marcuses große Fortschritte gemacht. Der Zugang zur Öffentlichkeit kann jetzt noch effektiver kontrolliert werden. Seine geistigen Nachfolger haben sich ganz prächtig darin eingerichtet. Schlichte Geister wie die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt sind Dauergäste in den Medien, der schlaue AfD-Mann Gottfried Curio dagegen nie. Es gibt übrigens bei Marcuse auch erhellende Sätze: „In der gegenwärtigen Periode wird das demokratische Argument zunehmend dadurch hinfällig, daß der demokratische Prozeß selbst hinfällig wird.“ Streicht man das Adverb „zunehmend“, hat man eine exakte Beschreibung der Lage.

Der Aufsatz über Redefreiheit von Bryan W. Van Norden („Kein Recht auf Publikum“) kann im Internet auf der Seite des Goethe-Instituts gelesen werden unter:  www.goethe.de