© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/19 / 17. Mai 2019

Unversöhnlich gegenüber dem Kapitalismus
Ist alles Provozierende an ihm vergangen? Eine Biographie entdeckt den politischen Bertolt Brecht neu
Wolfgang Müller

Lange brauchte es, bis die vermeintlich leitmedialen Feuilletons mit der neuen Brecht-Biographie „durch“ waren. Schon im Sommer 2018 warf der Suhrkamp-Verlag die Übersetzung von Stephen Parkers gut tausendseitigem Opus auf den Markt, doch erst vor kurzem schloß mit Peter Laudenbachs Besprechung in der Süddeutschen Zeitung (27. März 2019) der Rezensionsreigen ab. Der wie gewohnt Meinungsvielfalt vermissen läßt. Im Chor singen Frankfurter Allgemeine, Zeit & Co. stattdessen einstimmig das Lied vom „Meisterwerk“ (Laudenbach) des britischen Germanisten.

Überraschung: Das Urteil trifft sogar zu. Aber nur im Ergebnis, da die Begründungen allesamt unzureichend bis falsch sind. Denn hymnisches Lob erntet Parker zuvörderst dafür, daß er in epischer Ausführlichkeit den chronisch nierenkranken, zeitlebens unter zwanghaftem Zittern und Zucken (Chorea minor) leidenden Bertolt Brecht jenseits der lederbejoppten Machomaskerade in Mitleid heischender fragiler Körperlichkeit präsentiert. Und daß er bis herunter zur Erwähnung bayerisch-schwäbischer Dialektfärbungen die feste Verwurzelung im Herkunftsmilieu des soliden Augsburger Kleinbürgertums hell ausleuchtet. Breiten Raum gibt er der Schilderung nie gekappter familiärer Bindungen, Brechts „grenzwertiger Persönlichkeit“, seines Arbeitsrhythmus, der Verträge und Honorare, und natürlich dem Schlüssel-

lochthema „Brecht und die Frauen“. Sozusagen: der Dichter als Mensch.

Eine solche Präferenz fürs Private verrät jedoch mehr über das schlichte Weltbild der Rezensenten als über die tatsächlich hohe Qualität von Parkers Arbeit. In Zeiten wie diesen, in denen der Sinn für das Ganze, fürs Gemeinwesen, rapide schwindet und Theorien gesellschaftlicher Totalität aus der Mode kommen, hat Privates Konjunktur, haussieren „bunte“, nicht selten von konfusem Denken kündende Kultur-, Alltags-, Frauen- und Mentalitätshistorien. Psychologie erklärt dann Geschichte, Politik und Ökonomie treten zurück. Das war in der von schwacher Staatlichkeit geprägten Weimarer Republik nicht anders, als eine flinke Feder wie Emil Ludwig mit Biographien Millionenauflagen erzielte, unter denen etwa die über Wilhelm II. dem Publikum weismachen wollte, der verkürzte linke Arm des von Minderwertigkeitskomplexen gebeutelten Kaisers habe den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verursacht.

Primat des Politischen behauptet

Aber auf diesem dem Feuilleton ach so kongenialen Niveau bewegt sich Parker gerade nicht. Korrekt ist es zwar, daß er in überbordender Üppigkeit alle überlieferten Details der profanen Alltagsexistenz eines Künstlers vom Kaliber des Jahrhundertgenies Brecht ausfächert. Doch nicht darin besteht sein Hauptverdienst. Vielmehr darin, daß er ungeachtet akribischer Rekonstruktionen des Privaten letztlich den Primat des Politischen behauptet. Wie ein Vergleich zeigt, der in jeder Besprechung – konsequent und nicht zufällig – vermieden wurde. Warf doch niemand bisher einen Blick in die lange den Forschungsstandard bestimmende zweibändige Brecht-Biographie Werner Mittenzweis (1927–2014), um festzustellen, wo Parker darüber hinaus gelangt ist, was er besser gemacht hat.

Mittenzweis kurz vor dem Mauerfall in der DDR veröffentlichtes Werk, das es sogar auf fast 1.500 Seiten bringt, beanspruchte, das parteikonforme, quasi amtliche Bild Brechts zu fixieren. Dafür schien sich keiner mehr als dieser Literaturhistoriker zu eignen, tätig am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, zuständig unter anderem für die vom Chefideologen Kurt Hager überwachte Kaderausbildung des Pankower Regimes.

Wie in seiner ihm Sympathien einwerbenden Autobiographie („Zwielicht“, 2004) nachzulesen ist, war Mittenzwei kein Erzdogmatiker. Aber ein gläubiger Marxist, der schon mit seiner Dissertation über Brechts Schaffen in den 1930ern („Von der ‘Maßnahme’ bis zu ‘Leben des Galilei’“, 1962) die SED-Führung davon überzeugen wollte, daß der von ihr angefeindete und als unsicherer Kantonist beargwöhnte Dichter „auf ihrer Seite stand“. Entsprechend holzschnitt-artig konzipierte er die Krönung seiner vor allem dem politischen Dramatiker gewidmeten Brecht-Exegesen. Die Biographie von 1986 exponiert deshalb den „Antifaschisten“, um den Anti-Stalinisten und ätzenden Kritiker des Sowjet-Sozialismus kräftig zu verdunkeln.

Die fehlende Linientreue Brechts, der als Späterweckter erst um 1926 mit dem Marx-Studium begann und dessen erster Welterfolg, die „Dreigroschenoper“ (1928), bereits die literaturtheoretischen Beckmesser der Thälmann-KPD alarmierte, blieb für orthodoxe Prediger des „sozialistischen Realismus“ ein Skandalon. Der notorische Nonkonformist wiederum verachtete jene „Murxisten“, die 1933 unter Stalins Fittiche nach Moskau flüchteten, sich dort der „Gruppe Ulbricht“ attachierten und die, sofern sie die „Säuberungen“ überlebten, ab 1945 die Kulturpolitik in der Sowjetzone und in der DDR diktierten. Den 1948 nach Berlin, in den „Trümmerhaufen bei Potsdam“, zurückgekehrten Brecht nahmen sie vorzugsweise wegen  „volksfremder Dekadenz“ aufs Korn, dem betonkommunistischen Synonym für „entartete Kunst“. 

Das sind Frontverläufe und Konflikte, die Mittenzwei verkürzt, verniedlicht oder verschweigt. So interpretiert er das Stück „Das Leben des Galilei“, in der Erstfassung des Svendborger Exils von 1938, als historisch kostümierte, lupenrein „antifaschistische“ Parabel auf die Unterdrückung der „freien Wissenschaft“ im NS-Reich. Parker legt hingegen die „wirklich verblüffenden Parallelen“ zwischen zwei Häretikern frei, dem von der päpstlichen Inquisition verfolgten Physiker Galileo Galilei und dem „armen B. B.“, der als querköpfiger „Abweichler“ bezweifelte, daß die „Partei immer recht“ haben könne. Im „dänischen Galilei“, erst 1988 gleichzeitig in der DDR und in der BRD veröffentlicht, führe Brecht, der politische Künstler im Zeitalter der Extreme, verborgen hinter der Maske des von der kirchlichen Obrigkeit drangsalierten Naturforschers, sein „persönlichstes Schauspiel“ auf, das von „fundamentaler Bedeutung für das Verständnis seines Lebenswerks“ sei. Und es sei klar, daß es ihm hier nicht um den „Faschismus“, sondern „um sein Verhältnis zu Moskau und um die Schauprozesse zu tun war“.

Er erfaßte das Wesentliche im Komplexen

Trotz der Armlänge Abstand zu den totalitären Apparaten von KPdSU und SED hörte der in dieser Hinsicht niemals schwankende Anti-Stalinist Brecht nicht auf zu hoffen, die marxistische Utopie vom nicht entfremdeten Leben unter Gleichen lasse sich verwirklichen. Woraus für ihn, den unsystematischen Denker mit der schlafwandlerischen Gabe, Wesentliches im Komplexen zu erfassen, mit Marx und Engels nur ein einziger kategorischer Imperativ abzuleiten war: das kapitalistische System muß weg, weil es unmenschlich ist, weil es den Menschen zur Ware verdinglicht, statt ihm zum wahren Menschsein zu verhelfen.

Zu welcher aggressiven Unversöhnlichkeit Brecht fähig war und zu welcher polemischen Höchstform der sprachgewaltige Freund des Boxsports im Kampf gegen den verabscheuten Kapitalismus und seine liberal-demokratische Herrschaftsfassade auflief, demonstriert Parker in den brillanten Kapiteln über die kalifornischen Exiljahre (1941–1947). Als „Hungerkünstler in Hollywood“, der vergeblich versuchte, als Verfasser kitschiger Filmskripte zu reüssieren, nahm Brecht die „Traumfabrik“ als zentrale kulturindustrielle Agentur zur Beförderung des Idiotismus der Massen und zugleich als Mikrokosmos der US-Gesellschaft wahr, die auf ihren Untergang zusteuerte, weil sie die Lösung der Widersprüche des Profitmaximierung zum Selbstzweck erhebenden Kapitalismus ausgerechnet in noch mehr Kapitalismus, Marktöffnung, Freihandel, Deregulierung sah.

Kein Wunder, daß die Brecht-Rezeption diesem gefährlichen Autor ausweicht. Sie kann eben mit ihm, wie alle anderen derzeit vom Gift Politischer Korrektheit betäubten historischen Wissenschaften mit ihren jeweiligen Sujets, eigentlich gar „nichts anfangen“ (Robert Habeck). Zumal, abgesehen vom Privaten, der Erotomanie, an ihm ja alles Provozierende, auch seine zutiefst humanistische Empörung über den – mittlerweile global wütenden – Kapitalismus, angeblich vergangen sei, wie sich Thomas E. Schmidt mit feistem Behagen freute anläßlich der Berlinale-Uraufführung von Heinrich Breloers TV-Schmarren „Brecht“ (Die Zeit vom 14. März 2019), der sich wie gehabt aufs Privatleben des modernen Klassikers konzentriert, aufgemotzt mit peinlichsten „Antifa“-Klischees.

Stephen Parker: Bertolt Brecht. Eine Biographie, Suhrkamp, Berlin 2018, gebunden, 1.029 Seiten, 58 Euro